Amnesty Journal Deutschland 28. Oktober 2019

Theodor Wonja Michael: Überlebt als Unsichtbarer

Ein Mann sitzt in seinem Wohnhaus vor einer Maskensammlung

Theodor Wonja Michael kämpfte sein Leben lang um Anerkennung. 

Theodor Wonja Michael überlebte das NS-Regime als Hotelportier und Filmkomparse. Auch in der Bundesrepublik musste der Sohn eines kamerunischen Kolonialmigranten jahrzehntelang um Anerkennung ringen. Am 19. Oktober ist er im Alter von 94 Jahren gestorben. Bettina Rühl hat ihn wenige Monate vor seinem Tod in Köln getroffen.

Theodor Wonja Michael wurde 1925 in Berlin geboren, als Sohn einer Ostpreußin und eines Kameruners. Als er neun Jahre alt war, wollte er mit zum "Jungvolk" der Hitlerjugend. Das war im Herbst 1934. Seine Berliner Klassenkameraden hatten ihm von den Treffen der NSDAP-Nachwuchsorganisation vorgeschwärmt und wollten ihn dabei haben. Aber zu seiner Überraschung wurde Michael abgelehnt und weggeschickt. Da habe er zum ersten Mal gespürt, dass er nicht dazu gehöre, sagte er bei einem Besuch wenige Monate vor seinem Tod – nicht zum "deutschen Volk" und damit auch nicht zum "Jungvolk".

Ein Jahr zuvor hatte die NSDAP die Reichstagswahl gewonnen, Adolf Hitler war zum Reichskanzler ernannt worden. Welch bedrohlichen Wandel Deutschland unter den Nationalsozialisten durchmachte, ahnte der junge Theodor Wonja Michael schon vor seiner Abweisung beim "Jungvolk". So gewöhnte er sich an, auf dem Weg zur Schule die Straßenseite zu wechseln, wenn er an einem Stammlokal der SA vorbeigehen musste; die Atmosphäre, die die faschistischen Schlägertrupps der Sturmabteilung der NSDAP ausstrahlten, war ihm unheimlich. Trotzdem wurde ihm sein andersartiges Aussehen erst bewusst, als er als Nichtdeutscher zurückgeschickt wurde, erzählte er 85 Jahre nach diesem Schlüsselerlebnis in seinem Haus in Köln.

Doch wurde er bereits zuvor ausgegrenzt. So musste er als Zweijähriger mit seiner Familie bei "Völkerschauen" in Zirkussen und Zoos auftreten, weil sein Vater als schwarzer Mensch keine andere Möglichkeit sah, das Geld für das Überleben seiner Familie zu verdienen. Während das nationalsozialistische Deutschland immer rassistischer wurde, waren die Deutschen von projizierter Exotik unvermindert fasziniert. Ungehemmt begafften die Zuschauer im Rahmen solcher "Völkerschauen" vermeintlich afrikanisches Leben, etwa Männer in Baströckchen zwischen nachgebauten Rundhütten.

Trotz der jahrelangen Zurschaustellung fühlte sich Michael aber ganz fraglos als Deutscher. "Als Kind ist man das, was man von den Eltern vorgelebt bekommt", sagte er inmitten der übervollen Regale seiner umfangreichen Bibliothek. Schon als er noch im Baströckchen auftreten musste, wäre er am liebsten Wissenschaftler geworden, aber an die dafür nötige Schulbildung war im nationalsozialistischen Deutschland für einen schwarzen Menschen nicht zu denken.

Tief durchdrungen von Antisemitismus, Nationalismus und Rassismus war die deutsche Gesellschaft schon vor dem Nationalsozialismus: Die Hoffnungen einstiger Kolonialmigranten, nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft als gleichberechtigte Staatsbürger anerkannt zu werden, hatten sich nicht erfüllt. Im Sommer 1919 hatte eine Gruppe von schwarzen Deutschen um Martin Dibobe in einer Petition Bürgerrechte für alle Bewohner der früheren deutschen Kolonien gefordert, sie schrieben auch die Abgeordneten der frisch gewählten Nationalversammlung in Weimar an. Auch der Vater von Theodor Wonja Michael unterzeichnete die Petition. Er war 1894 aus Kamerun nach Berlin gekommen, um hier zu studieren und sich ein neues Leben aufzubauen. Weil das afrikanische Land am Atlantik dem "Schutz des Deutschen Reiches" unterstellt war, fühlte sich Theophilus Wonja Michael als Deutscher, als er 1894 ins "Mutterland" reiste. Er war 1879 in Kamerun auf die Welt gekommen, fünf Jahre vor dem Beginn der deutschen Kolonialherrschaft.

Treibende Kraft für die Errichtung der Kolonie waren ursprünglich Kaufleute aus Hamburg und Bremen gewesen, die schon seit einigen Jahren mit den Chiefs an der Küste handelten und diese Geschäfte auch auf das Hinterland ausdehnen wollten. Deshalb drängten sie auf die Gründung eines "Schutzgebietes", was der damalige Reichskanzler Otto von Bismarck zunächst ablehnte: Er sah in Kolonien ein teures und überflüssiges Abenteuer. Aber letztlich machte auch das Kaiserreich beim imperialistischen Wettlauf um Afrika mit und sicherte sich bei der 1885 in Berlin abgehaltenen Kongo-Konferenz neben Kamerun Togo, Deutsch-Ostafrika (heute Tansania) und Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia).

Eine Postkarte mit Gruppenbild

Postkarte "Mohameds Ostafrika-Schau" mit Theodor Wonja Michael auf dem Schoß von Ben Ahmed (Mitte), Ende der 1920er Jahre. 

Zerschlagene Hoffnungen

Unter der deutschen Herrschaft in Kamerun konnte Theophilus Wonja Michael an einer Missionsschule lernen. Doch seine Hoffnung, als Sohn eines Notablen im vermeintlichen Mutterland eine standesgemäße Ausbildung absolvieren zu können, zerschlug sich schnell: Statt zu studieren, verdiente er sein Geld zunächst beim U-Bahn-Bau, später durch Engagements bei Völkerschauen oder im Varieté. Obwohl er sich anderes erträumt hatte und in schwierigen Verhältnissen lebte, war Theophilus’ Loyalität für Deutschland groß: erst für das Kaiserreich und nach der Novemberrevolution 1918 für die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik.

In der von Martin Dibobe verfassten Petition an Reichskolonialminister Johannes Bell vom Sommer 1919, die von 18 Afrodeutschen unterzeichnet worden war, versicherten sie der neuen, demokratischen Regierung, dass die Chiefs in Kamerun den mit dem Kaiserreich 1884 geschlossenen Vertrag zur Gründung eines "Schutzgebietes" weiter anerkennen würden. "Ebenso setzen wir in die jetzige soziale Republik das Vertrauen, dass die Behandlung der Eingeborenen eine andere und bessere ist, als unter der gewesenen kaiserl. Regierung." Die Unterzeichner gelobten "der sozialen Republik unverbrüchliche Treue" und versprachen, bei Einhaltung des Vertrags von 1884 "mit dem neuen deutschen Reiche in gutem Einvernehmen zu leben".

Dibobe und die übrigen Unterzeichner der Petition setzten ihre Hoffnung auf die politischen Verhältnisse in der Weimarer Republik. Das wird auch in einem Schreiben an Reichskolonialminister Bell von 1922 deutlich, das Dibobe, der erste schwarze Zugführer der Hoch- und Untergrundbahn, verfasste. "Gegen den Raub der Kolonien sowie Unterstellung derselben unter Herrschaft der Engländer und Franzosen erheben die hier lebenden Eingeborenen aus Kamerun sowie Ostafrika den schärfsten Protest", heißt es darin. Die Einheimischen in den ehemaligen Kolonien befänden sich unter der fremden Herrschaft "in Schwierigkeiten", sie klammerten sich aber "mit aller Energie und fester Überzeugung an Deutschland", das Kamerun und seine anderen Kolonien nach Ende des Ersten Weltkriegs verloren hatte.

Doch für die im Reich gebliebenen "Schutzangehörigen" aus den Kolonien änderte sich zunächst wenig. Auf rund 2.000 wird ihre Zahl geschätzt, die meisten hatten – wie auch der Vater von Theodor Wonja Michael – mit weißen Frauen eine Familie gegründet und damit das Recht, in Deutschland zu bleiben. Nun hofften die Afrodeutschen der Weimarer Republik, Teil des deutschen Staates und der deutschen Demokratie zu werden.

"Naiv" seien die Hoffnungen Dibobes gewesen, sagte Theodor Wonja Michael hundert Jahre nach dem Ende des Kolonialreichs. Dessen Petition habe "Weimar nie erreicht, sie war nie Gegenstand einer politischen Beratung, wurde nicht ernst genommen". Michael hatte aber viel Verständnis für die Lage der ersten Generation von Afrodeutschen: Sie waren in den Kolonien geboren, hatten nur wenig europäische Bildung und verstanden die europäische Politik daher kaum. Außerdem seien sie ständig mit nur einer Frage beschäftigt gewesen: "Wie komme ich über den nächsten Tag?"

Theophilus Wonja Michael überlebte in Deutschland nicht lange. Als er 1934 starb, war sein jüngster Sohn Theodor erst neun Jahre alt. Seine Mutter war schon ein Jahr nach seiner Geburt gestorben, sodass der Junge als Waise unter teils erbärmlichen Umständen bei Pflegeeltern aufwuchs, die ihn ebenfalls bei "Völkerschauen" auftreten ließen.

Unter der nationalsozialistischen Diktatur wurde seine Lage noch schwieriger. Um eine Überlebenschance zu haben, versuchte Theodor Wonja Michael, unsichtbar zu bleiben. Dabei half ihm immer wieder die Macht des Faktischen, die zu geradezu kuriosen Widersprüchen führte. So arbeitete er zwischenzeitlich als Portier in einem Hotel, in dem die Elite der SS regelmäßig abstieg – und ihn als schwarzen Menschen faktisch "übersah". Michael musste jeden Job annehmen, der ihm überhaupt zugänglich war. So spielte er unter anderem als schwarzer Statist in Filmen mit, die von den Nazis für Propagandazwecke eingesetzt wurden. Zuletzt 1942 in dem UFA-Monumentalfilm "Münchhausen", in dem er den Leibwedler des Sultans spielte. Gleichzeitig war er in ständiger Lebensgefahr: 1935 wurden die Nürnberger Gesetze zum Schutz des "Deutschen Bluts" erlassen. Die Auswirkungen betrafen Juden, Roma, Sinti, Afrikaner und Asiaten.

"Die Hitlerzeit war für mich ein einziger Stress"

Als Sohn eines Afrikaners und einer Deutschen war Michael das lebende Beispiel der "Rassenschande", die von den Nazis unter Strafe gestellt worden war. Ständig hatte er Angst, ins KZ deportiert oder sterilisiert zu werden. "Die ganze Hitlerzeit war für mich ein einziger Stress", berichtete er, "die ganzen zwölf Jahre". Immer wieder fragte er sich: "Nimmst du dir das Leben, oder wird das einmal anders?"

Schließlich wurde es anders, mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945. Aber obwohl die Diktatur am Ende war, waren Rassismus und Faschismus noch lange nicht vorbei, sind es bis heute nicht. Man sei täglich damit konfrontiert, erzählte Michael. Besonders hart seien die ersten Nachkriegsjahre gewesen. "Das fing mit dem Suchen einer Wohnung an und ging mit den Bewerbungen weiter." Dabei brauchte er dringend Geld, er hatte eine Familie gegründet, die er nun ernähren musste. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich mit Jobs bei den Amerikanern und mit Engagements beim Theater und beim Rundfunk durchzuschlagen, die aber zum Leben nicht genug einbrachten. Ständige finanzielle Probleme waren die Folge.

Ein Neuanfang gelang ihm erst 1960, als er dank eines Stipendiums in Paris Volkswirtschaft und Soziologie studieren konnte. Danach arbeitete er als Journalist, unter anderem für die Deutsche Welle, wurde Chefredakteur des Afrika-Bulletins und wegen seiner Afrika-Expertise 1972 schließlich Beamter beim Bundesnachrichtendienst BND.

"Mich hat die Anfrage stolz gemacht", sagte er. "Sie müssen sich vorstellen, dass ich bis dahin nie Anerkennung erlebt hatte, immer nur zurückgewiesen worden war. Und plötzlich sagt eine höhere Stelle: Wir brauchen Dich!" Nicht nur Stolz bewegte ihn zur Zusage, er sah auch die Chance, ein Türöffner für andere Afrodeutsche zu sein. Er habe den alltäglichen Rassismus in der Zeit der Bonner Republik nicht so stark empfunden wie seit der Wiedervereinigung, sagte Michael. Deutschland ist für ihn ein "schwieriges Mutterland" geblieben – aber eines, für das er sich bis zum Schluss engagierte.

Nicht zuletzt ermutigte er Jüngere, angesichts des wieder erstarkenden Rassismus und Nationalismus nicht zu verzagen: "Denn wenn ihr euch nicht engagiert, kann sich nichts ändern." 

Seine Willensstärke und sein Wissensdurst haben Theodor Wonja Michaels Leben geprägt. Es gehört zu einem kaum bekannten Teil der deutschen Geschichte: dem afrodeutschen Leben, das mit den Kolonien des Deutschen Kaiserreiches begann. Manches habe sich bis heute nicht geändert, sagte Michael wenige Monate vor seinem Tod: "Als Nichtweißer kommt man ohne Schrammen nicht davon – das hat nie aufgehört."

 

Theodor Wonja Michael schilderte sein wechselvolles Leben in seiner Autobiografie: Deutsch sein und schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen. dtv, München 2014 (4. Auflage). 224 Seiten, 9,90 Euro.

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