Tunesien: Haft für Oppositionspolitikerin

Das Bild zeigt das Porträtbild einer Frau, sie zeigt das Victory-Zeichen mit beiden Händen

Die tunesische Oppositionspolitikerin und Rechtsanwältin Abir Moussi (24. Dezember 2022)

Am 5. August 2024 verurteilte ein Gericht in der tunesischen Hauptstadt Tunis die Oppositionspolitikerin Abir Moussi zu zwei Jahren Haft, nachdem sie öffentlich den Wahlprozess kritisiert hatte. Abir Moussi ist seit dem 3. Oktober 2023 willkürlich inhaftiert, weil sie versucht hatte, vor den Lokalwahlen Rechtsmittel gegen Präsidialdekrete einzulegen. Zudem laufen noch weitere Ermittlungen gegen sie – allein weil sie ihre Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahrgenommen hat. Die tunesischen Behörden müssen Abir Moussi unverzüglich freilassen und die Anklagen gegen sie fallen lassen.

Appell an

Kais Saied
President of the Republic
Route de la Goulette
Site archéologique de Carthage
TUNESIEN

Sende eine Kopie an

Botschaft der Tunesischen Republik
S.E. Herrn Wacef Chiha
Lindenallee 16
14050 Berlin
Fax: 030-30 82 06 83
E-Mail: at.berlin@tunesien.tn

Amnesty fordert:

  • Bitte sorgen Sie dafür, dass Abir Moussi umgehend freigelassen wird und alle Anklagen gegen sie fallen gelassen werden, die allein auf ihrem friedlichen Aktivismus basieren. 
  • Sorgen Sie dafür, dass sie bis zu ihrer Freilassung regelmäßigen Zugang zu ihrer Familie, ihren Rechtsbeiständen und angemessener medizinischer Versorgung erhält und dass ihre Haftbedingungen den internationalen Standards für die Behandlungen von Gefangenen entsprechen. 

Sachlage

Am 5. August 2024 verurteilte das erstinstanzliche Gericht in Tunis die Oppositionspolitikerin Abir Moussi zu zwei Jahren Haft. Grundlage war ihre öffentliche Kritik am Wahlprozess im November 2022 und Januar 2023. Sie wurde unter dem Gesetzeserlass 2022-54 über Cyberkriminalität verurteilt, nachdem die Wahlbehörde ein Verfahren angestrengt hatte. Außerdem läuft gegen Abir Moussi ein separates Ermittlungsverfahren wegen der Ausübung ihrer Rechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit in Verbindung mit von ihr angeführten Protesten bzw. von ihr getätigten Aussagen.

Kritik an den Behörden fällt unter das Recht auf Meinungsfreiheit, wie in Artikel 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie Artikel 9 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker verankert, deren Vertragsstaat Tunesien ist.

Seit seiner Machtergreifung am 25. Juli 2021 beruft sich Präsident Kais Saied auf Notstandsbefugnisse aus der Verfassung von 2014. Seit Februar 2023 hat sich die Menschenrechtslage in Tunesien rapide verschlechtert und zahlreiche Kritiker*innen stehen im Visier der Behörden. Gegen mindestens 74 Oppositionelle und andere vermeintliche Gegner*innen des Präsidenten wurden strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet. Darunter befinden sich mindestens 44 Personen, denen in Verbindung mit der friedlichen Wahrnehmung ihrer Menschenrechte Straftaten vorgeworfen werden. Dieses harte Vorgehen gegen Oppositionelle bedroht die Menschenrechte in Tunesien, einschließlich der Rechte auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit. Diese Rechte sind durch die Artikel 19, 21 und 22 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie durch die Artikel 9, 10 und 11 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker geschützt, zu deren Vertragsstaaten Tunesien gehört. 

Hintergrundinformation

Hintergrund

Die 48-jährige Abir Moussi ist Anwältin, Vorsitzende der Partei Parti Destourien Libre (PDL) und eine bekannte politische Gegnerin von Präsident Kais Saied. Von 2019 bis 2021 war sie Parlamentsabgeordnete. Am 5. August 2024 verurteilte das erstinstanzliche Gericht in Tunis sie zu zwei Jahren Haft, weil sie öffentlich den Wahlprozess kritisiert hatte. Die Verurteilung erfolgte gemäß dem Gesetzeserlass 2022-54 über Cyberkriminalität, nachdem die Wahlbehörde ein Verfahren angestrengt hatte. Am 24. September 2023 hatte Abir Moussi eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der sie ihr Interesse äußerte, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen anzutreten. Nur wenige Tage später, am 3. Oktober 2023, wurde sie vor einem zum Komplex des Präsidentenpalastes gehörenden Verwaltungsgebäude festgenommen. Dort hatte sie versucht, bei der zuständigen Behörde Rechtsmittel gegen Präsidialdekrete einzulegen, war aber daran gehindert worden. Abir Moussi protestierte gegen diese willkürliche Behinderung und bestand darauf, vor dem Verwaltungsgebäude stehen zu bleiben und alles live auf Facebook zu streamen. Laut Augenzeug*innen und Rechtsbeiständen wurde sie von Sicherheitskräften abgeführt und für zwei Stunden an einen unbekannten Ort gebracht, bevor ihre Rechtsbeistände sie auf der Polizeiwache von La Goulette ausfindig machen konnten, einem Viertel in der Hauptstadt Tunis. Erst nachdem sich Abir Moussi bereits 48 Stunden lang in Gewahrsam befunden hatte, wurden die Rechtsbeistände über die Entscheidung der Staatsanwaltschaft informiert, sie in Untersuchungshaft zu nehmen. Zudem ignorierte die Polizei die Bitte von Abir Moussi um notwendige Medikamente, was zu gesundheitlichen Komplikationen führte, die später einen Krankenhausaufenthalt erforderlich machten.

Am 5. Oktober 2023 wurde Abir Moussi vor dem erstinstanzlichen Gericht in Tunis wegen des Vorwurfs der Absicht, "die Staatsform zu ändern", der "Anstiftung zur Gewalt auf tunesischem Hoheitsgebiet" und des "Angriffs mit dem Ziel, Unruhe zu stiften" gemäß Paragraf 72 des Strafgesetzbuchs verhört und ihre Untersuchungshaft angeordnet. Außerdem wurden ihr die "Verarbeitung personenbezogener Daten ohne Zustimmung der betroffenen Person" und die "Beeinträchtigung des Rechts auf Arbeit" gemäß Paragraf 27 und 87 des Datenschutzgesetzes sowie Paragraf 136 des Strafgesetzbuchs vorgeworfen. Am 30. Januar 2024 wurden die Anklagen unter Paragraf 72 fallengelassen, Abir Moussi blieb jedoch auf Grundlage der zwei anderen Anklagepunkte in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft legte Rechtsmittel gegen diesen Gerichtsentscheid ein und die Vorwürfe werden neu geprüft.

Zwischen Dezember 2022 und März 2023 zeigte die Wahlbehörde Abir Moussi auf der Grundlage des Gesetzeserlasses 54 in vier Punkten bei der Generalstaatsanwaltschaft von Tunis an. Hierbei ging es um kritische Äußerungen von Abir Moussi über den Wahlprozess. Die Rechtsbeistände von Abir Moussi führen an, dass die vier Anzeigen laut Gesetz in einer einzigen Untersuchung hätten zusammengefasst werden müssen; stattdessen werden sie getrennt und von verschiedenen Richter*innen behandelt.

HINTERGRUNDINFORMATIONEN – Fortsetzung (Auf Englisch)

On 5 July 2024, an investigative judge questioned Abir Moussi over complaints by the ISIE regarding her statements from November 2022 and January 2023, where she alleged that legislative elections were "rigged" and the number of elected deputies was incomplete. The judge ordered her pre-trial detention and referred her to trial under article 24 of Decree law 54 for "deliberately using information and communication networks and systems to produce, promote, publish, transmit or prepare false news, statements, rumours or documents that are artificial, falsely attributed to others with the aim of attacking the rights of others, harming public security or national defence, or spreading terror among the population." On 5 August 2024, Abir Moussi appeared for trial, where her defence team's requests for postponement and provisional release were denied. The court convicted her to two years in prison, violating her right to a fair trial and freedom of expression.

Abir Moussi faces criminal charges under Articles 15, 245, 220 and 306 of the Penal Code, following a complaint by the International Union of Muslim Scholars on 10 May 2022, after two protests outside their Tunis office. The complaint includes charges of property damage, theft, defamation, spreading false news and public intimidation. Abir Moussi was questioned by an investigative judge on 12 June 2024. According to international human rights law, defamation should be handled as a civil matter, not criminal, and should never result in imprisonment. Public officials seeking redress for defamation should do so in civil, not criminal, courts.