DEINE SPENDE KANN LEBEN RETTEN!
Mit Amnesty kannst du dort helfen, wo es am dringendsten nötig ist.
DEINE SPENDE WIRKT!
Tunesien: Anwalt weiter vor Militärgericht
Der tunesische Anwalt Abderazzak Kilani (Archivfoto)
© privat
Abderazzak Kilani, prominenter Anwalt und ehemaliger Präsident der tunesischen Anwaltskammer, wird am 12. Mai vor einem Militärgericht in Tunis zur Verhandlung erscheinen. Er wurde am 2. Januar von Sicherheitskräften daran gehindert, seinen Pflichten als Anwalt nachzukommen, indem sie ihm nicht gestatteten, seinen willkürlich inhaftierten Mandanten, den ehemaligen Justizminister Noureddine Bhiri, zu besuchen. Wegen eines verbalen Schlagabtauschs zwischen ihm und Angehörigen der Polizei nach dem besagten Vorfall wird er nun strafverfolgt. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu sechs Jahre Haft. Sein Prozess ist ein gefährlicher Präzedenzfall und ein Angriff auf die Verfahrensrechte in Tunesien. Die Behörden müssen die haltlosen Vorwürfe gegen Abderazzak Kilani unverzüglich fallenlassen und der strafrechtlichen Verfolgung von Zivilpersonen vor Militärgerichten ein Ende setzen.
Appell an
PRÄSIDENT
Kais Saied
Route de la Goulette
Site archéologique de Carthage
TUNESIEN
Sende eine Kopie an
Botschaft der Tunesischen Republik
Herrn Chiheb Chaoch, Geschäftsträger a.i.
Lindenallee 16
14050 Berlin
Fax: 030-3082 06 83
E-Mail: at.berlin@tunesien.tn
Amnesty fordert:
- Bitte sorgen Sie dafür, dass die Anklagen gegen Abderrazak Kilani, der wegen Handlungen im Rahmen der rechtmäßigen Ausübung seiner Pflichten angeklagt wird, fallengelassen werden.
- Außerdem fordere ich Sie auf, die strafrechtliche Verfolgung von Zivilpersonen vor Militärgerichten zu beenden.
Sachlage
Der bevorstehende Prozess gegen Abderrazak Kilani vor dem Militärgericht erster Instanz in Tunis gibt Anlass zu großer Sorge. Die Strafverfolgung von Zivilpersonen vor Militärgerichten widerspricht völkerrechtlichen Verträgen, die von Tunesien ratifiziert wurden. Darüber hinaus stellt seine Strafverfolgung einen Angriff auf das Recht auf einen Rechtsbeistand dar, da er nicht nur daran gehindert wurde, seinen Mandanten zu besuchen, sondern jetzt auch noch dafür vor Gericht gestellt wird.
Am 21. Januar erhob ein Militärstaatsanwalt auf Grundlage der Paragrafen 79, 125 und 136 des Strafgesetzbuches Anklage gegen Abderazzak Kilani wegen Teilnahme an einer die öffentliche Ordnung störenden Versammlung, Beleidigung von Staatsbediensteten und Behinderung der Arbeit anderer. Die Vorwürfe beruhen auf Bemerkungen von Abderrazak Kilani gegenüber Polizeikräften, die ihn am 2. Januar daran gehindert hatten, das Bougatfa-Krankenhaus in der Stadt Bizerte nördlich von Tunis zu betreten. Er hatte dort seinen Mandanten Noureddine Bhiri, einen ehemaligen Justizminister, besuchen wollen. Amnesty International hat sich ein Video des Vorfalls angesehen und ist der Ansicht, dass weder die Handlungen noch die Worte von Abderrazak Kilani Drohungen, eine Anstiftung zur Gewalt oder eine Behinderung der Polizeiarbeit darstellten.
Bei einer Anhörung am 2. März ordnete ein Untersuchungsrichter des Militärgerichts erster Instanz in Tunis die Inhaftierung von Abderazzak Kilani im Mornaguia-Gefängnis an. Am 21. März wurde er nach 19 Tagen ungerechtfertigter Inhaftierung freigelassen. Der Fall wurde inzwischen zur Verhandlung gebracht, die am 12. Mai beginnen soll. Bei einer Verurteilung drohen Abderazzak Kilani bis zu sechs Jahre Haft.
Die strafrechtliche Verfolgung von Abderazzak Kilani durch ein Militärgericht verstößt gegen Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, dessen Vertragsstaat Tunesien ist. Artikel 14 garantiert das Recht darauf, dass über eine erhobene strafrechtliche Anklage "durch ein zuständiges, unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht in billiger Weise und öffentlich verhandelt wird." Durch diese Strafverfolgung wird auch sein Recht auf freie Meinungsäußerung untergraben sowie sein Recht auf Ausübung seines Berufs als Rechtsanwalt, der sich um Zugang zu einem Mandanten bemüht.
Hintergrundinformation
Abderazzak Kilani ist Rechtsanwalt und ehemaliger Präsident der tunesischen Anwaltskammer. Von 2011 bis 2013 war er Minister für die Beziehungen der Regierung zum Parlament und von 2013 bis 2014 tunesischer Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf. Er ist auch Mitglied des Anwaltsteams von Noureddine Bhiri, einem ehemaligen Justizminister und hochrangigen Funktionär der Partei Ennahdha, der von den Behörden willkürlich 67 Tage lang festgehalten wurde, bevor er am 7. März ohne Anklage freigelassen wurde. Während seiner gesamten Inhaftierung wurde ihm das Recht auf Zugang zu seinen Rechtsbeiständen verweigert.
Am 31. Dezember 2021 nahmen die Behörden Noureddine Bhiri vor seinem Haus in Tunis fest und brachten ihn an einen unbekannten Ort. Seine Frau Saïda Akremi, auch sie Anwältin, war Zeugin der Festnahme und bat sofort Kolleg_innen um Hilfe. Abderazzak Kilani übernahm die Koordination der Verteidigung von Noureddine Bhiri. Am 2. Januar 2022 begaben sich Abderazzak Kilani und Noureddine Bhiris Frau zusammen mit anderen Rechtsbeiständen zum Bougatfa-Krankenhaus in Bizerte. Nach Ihren Informationen war Noureddine Bhiri dorthin gebracht worden, und sie wollten ihn dort besuchen. Wie Abderrazak Kilani und Saïda Akremi Amnesty International berichteten, wurden sie von der vor dem Krankenhaus postierten Polizei daran gehindert, das Gebäude zu betreten. Saïda Akremi sollte zunächst ein ihr unbekanntes Dokument unterzeichnen, Abderazzak Kilani wurde der Zugang zu Noureddine Bhiri ganz untersagt.
Abderrazak Kilani klärte die Polizei auf, dass sie sich strafbar mache, wenn sie ihm den Zutritt zum Krankenhaus verwehre. Er verglich die Situation mit der von Sicherheitskräften, die sich wegen Menschenrechtsverletzungen unter den ehemaligen Präsidenten Habib Bourguiba und Zine El Abidine Ban Ali vor speziellen Übergangsgerichten verantworten mussten. Diese Gerichte waren nach der Revolution von 2011, bei der Ben Ali gestürzt wurde, eingerichtet worden. Das Gespräch wurde gefilmt und in einem von Abderazzak Kilani gegenüber Amnesty International bestätigten Video in den Sozialen Medien gepostet.
Ein Militärrichter hat den Vorfall im Habib-Bougatfa-Krankenhaus in Bizerte, auf den sich die Anklage gegen Abderazzak Kilani stützt, untersucht und den "verbalen Schlagabtausch", den Abderazzak Kilani am 2. Januar vor dem Krankenhaus mit Sicherheitskräften führte, als Grundlage für seine Strafverfolgung bestätigt.
Das tunesische Recht räumt den Militärgerichten unter bestimmten Umständen die Zuständigkeit für die Strafverfolgung von Zivilpersonen ein. Dies gilt u. a. für Straftaten nach dem Strafgesetzbuch, die unter bestimmten Umständen gegen Sicherheitskräfte begangen werden, wie in Paragraf 22 des Gesetzes 1982-70 über den Status interner Sicherheitskräfte festgelegt.
Ein Rechtsbeistand ist von grundlegender Bedeutung für das Recht auf ein faires Verfahren, das in den von Tunesien ratifizierten Verträgen garantiert wird. Dazu gehören der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker. In den UN‑Grundprinzipien betreffend die Rolle der Rechtsbeistände heißt es: "Der Staat stellt sicher, dass der Rechtsanwalt [...] in der Lage ist, alle seine beruflichen Aufgaben ohne Einschüchterung, Behinderung, Schikanen oder unstatthafte Beeinflussung wahrzunehmen."
Die tunesischen Militärgerichte erfüllen die Anforderung der Unabhängigkeit nicht, da der Präsident das letzte Wort bei der Ernennung von Richter_innen und Staatsanwält_innen an Militärgerichten hat. Darüber hinaus gehören sowohl der Generalstaatsanwalt als auch alle anderen Staatsanwält_innen an Militärgerichten der Armee an und unterliegen damit militärischen Disziplinarverfahren. Somit stehen sie unter dem Einfluss der Exekutive, da der Präsident gemäß der tunesischen Verfassung auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist.
Seit der Machtergreifung von Präsident Saied am 25. Juli 2021 gehen die Militärgerichte zunehmend strafrechtlich gegen Zivilpersonen vor, u. a. gegen Journalist_innen, Blogger_innen und Oppositionelle.