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Marokko: Haft wegen Facebook-Post
Die marokkanische Aktivistin und Bloggerin Fatima Karim
© privat
Am 15. August 2022 wurde die marokkanische Bloggerin und Aktivistin Fatima Karim wegen der Veröffentlichung satirischer Kommentare zu einem Koranvers auf Facebook zu zwei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt. Die Behörden hatten die Kommentare als Beleidigung des Islams eingestuft. Fatima Karim befindet sich seit ihrer Festnahme am 26. Juli 2022 in Einzelhaft ohne Kontakt zu anderen Häftlingen. Die Veröffentlichung eines Fotos oder Texts in den Sozialen Medien ist durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt, auch wenn andere darin eine Beleidigung ihrer Religion sehen. Amnesty International fordert deshalb die unverzügliche Freilassung von Fatima Karim.
Appell an
Head of Government of the Kingdom of Morocco
Mr. Aziz Akhannouch
Palais Royal – Touarga
Rabat 10070
MAROKKO
Sende eine Kopie an
Botschaft des Königreichs Marokko
I.E. Frau Zohour Alaoui
Niederwallstraße 39
10117 Berlin
Fax: 030–2061 2420
E-Mail: kontakt@botschaft-marokko.de
Amnesty fordert:
- Hiermit bitte ich Sie, anzuordnen, dass Fatima Karim freigelassen und alle Anklagen gegen sie fallen gelassen werden.
- Außerdem fordere ich Sie auf, Schritte einzuleiten, um Paragrafen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung kriminalisieren, aus dem Strafgesetzbuch zu streichen oder zu ändern, einschließlich Paragraf 267(5), der es verbietet, dem Islam, der Monarchie oder der "territorialen Integrität" Marokkos "Schaden zuzufügen".
Sachlage
Die Verurteilung der Bloggerin und Aktivistin Fatima Karim zu zwei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe wegen der Veröffentlichung ihrer Meinung auf Facebook gibt großen Anlass zur Sorge. Die Veröffentlichung eines Fotos oder Texts in den Sozialen Medien darf nicht als Straftat gelten, auch wenn andere darin eine Beleidigung ihrer Religion sehen.
Am 15. Juli 2022 wurde Fatima Karim bei ihrer Arbeit in einer Näherei in Oued Zem, einer Stadt in Zentralmarokko, von der Polizei zu einem Verhör vorgeladen. Am 26. Juli 2022 wurde sie nach Angaben ihres Rechtsbeistands auf dem Polizeirevier von Oued Zem zu ihren Facebook-Beiträgen befragt. Noch am gleichen Tag brachte man sie in das Gefängnis in Khouribga, wo sie seither inhaftiert ist. Am 15. August 2022 verurteilte sie ein erstinstanzliches Gericht in Oued Zem wegen des Vorwurfs der Beleidigung des Islams mit elektronischen Mitteln gemäß Paragraf 267(5) des Strafgesetzbuchs zu zwei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe in Höhe von 50.000 MAD (rund 4.660 EUR). In dem Paragrafen heißt es, dass das Untergraben des Islam mit einer Haftstrafe zwischen sechs Monaten und zwei Jahren sowie einer Geldbuße geahndet werden kann. Am 18. August 2022 legte Fatima Karim ein Rechtsmittel gegen das Urteil ein. Dabei berief sie sich auf ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und entschuldigte sich bei allen, die ihre Beiträge als beleidigend empfunden hatten. Am 13. September 2022 bestätigte das Berufungsgericht von Khouribga das Urteil.
Auslöser für die strafrechtliche Verfolgung von Fatima Karim war ursprünglich ein Facebook-Beitrag, den sie am 19. Juni 2022 veröffentlichte. Darin zeigte sie das Bild einer Frau im Niqab (Vollverschleierung) mit Worten aus einer Koransure über Jungfrauen im Paradies. In einem Kommentar zu diesem Bild sagt sie, dass diese Worte von jemandem stammen müssten, der "aus der Wüste und insbesondere aus Saudi-Arabien" sei. Die Staatsanwaltschaft ergänzte die ursprüngliche Anklage um neun weitere satirische Beiträge aus der Zeit zwischen Mai und Juli 2022, in denen Fatima Karim sich über islamische Sitten und Glaubensvorstellungen lustig gemacht hatte. Amnesty International möchte weder den Sprachgebrauch noch schädliche Stereotypen unterstützen, betrachtet die Beiträge jedoch als geschützt durch das Recht auf freie Meinungsäußerung, das auch das Recht umfasst, sich in polemischer Weise zu äußern. Die zehn Facebook-Beiträge, die als Beweismittel gegen Fatima Karim verwendet wurden, enthielten keine Aufrufe zu Hass oder Diskriminierung und waren lediglich Ausdruck ihrer Meinung.
Seit ihrer Festnahme befindet sich Fatima Karim in Einzelhaft im Gefängnis von Khouribga, etwa 40 km vom Wohnort ihrer Familie in Oued Zem entfernt. Sie darf ihre Zelle nur jeden dritten Tag verlassen, um ihre Familie anzurufen, und es ist ihr untersagt, mit anderen Häftlingen zu sprechen.
Hintergrundinformation
Fatima Karim ist 39 Jahre alt und Inhaberin einer Näherei und einer Kosmetikfirma in Oued Zem, einer Stadt in Zentralmarokko in rund 150 km Entfernung von Casablanca. Im Juli 2021 berichtete sie, wegen ihrer Israel-freundlichen Haltung Morddrohungen erhalten zu haben. Sie war bei den Regionalwahlen 2015 für die Partei für Fortschritt und Sozialismus (Parti du progrès et du socialisme – PPS) angetreten.
Die Polizei nahm Fatima Karim am 26. Juli nach einer Befragung zu ihren Beiträgen in den Sozialen Medien fest. Sie brachte sie in das Gefängnis von Khouribga, das etwa 40 km von ihrem Heimatort Oued Zem entfernt ist. Dort befindet sie sich seither in Einzelhaft. Ein Familienangehöriger teilte Amnesty mit, dass ihr vermutlich nicht erlaubt ist, mit anderen Häftlingen zu sprechen, um diese nicht mit ihren Ansichten zu beeinflussen. Sie darf alle 14 Tage Familienbesuch empfangen, doch ihre Eltern können sie aus finanziellen Gründen nur einmal im Monat besuchen.
Laut Paragraf 267(5) des marokkanischen Strafgesetzbuchs kann eine Person, die überführt wird, dem Islam "Schaden zugefügt" zu haben, mit einer Gefängnisstrafe zwischen sechs Monaten und zwei Jahren und einer Geldstrafe zwischen 20.000 und 200.000 MAD bestraft werden. Im Juni 2021 verurteilte ein marokkanisches Gericht eine marokkanisch-italienische Frau wegen Facebook-Beiträgen zum Koran, die als Beleidigung des Islam betrachtet wurden, zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren. Im Juli 2020 verurteilte ein Gericht in der Stadt Safi Muhammed Awatif Qashqash nach Paragraf 267(5) zu sechs Jahren Gefängnis und einer Geldbuße von 300 MAD (rund 28 EUR), weil er im Internet eine Karikatur veröffentlicht hatte, die mehrere religiöse Figuren zeigte, darunter den Propheten Mohammed. Im Mai 2020 nahm die Polizei in Casablanca den marokkanischen Schauspieler Rafik Boubker fest. Er wurde nach Paragraf 267(5) wegen des Inhalts eines Videobeitrags auf Facebook angeklagt, in dem er sich über die Abschaffung von Whisky und Wodka äußerte und Alkohol als gute Methode bezeichnete, um in Kontakt mit Gott zu treten. Rafik Boubker wurde am nächsten Tag gegen Zahlung einer Geldbuße freigelassen.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung, das in Artikel 19 Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) verankert ist, schließt das Recht ein, Informationen über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen zu verbreiten. Der UN-Menschenrechtsausschuss, das maßgebliche Kontrollorgan des IPbpR, hat in seiner Allgemeinen Bemerkung zu Artikel 19 des IPbpR festgestellt, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung auch solche Äußerungen schützt, die als beleidigend oder verletzend für Anhänger*innen einer bestimmten Religion angesehen werden könnten, es sei denn, die betreffende Äußerung stellt ein "Eintreten für nationalen, rassistischen oder religiösen Hass [dar], durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt angestiftet wird".
Das Recht auf Religionsfreiheit ist in Artikel 18 des IPbpR verankert und beinhaltet auch die Freiheit, eine religiöse Überzeugung anzunehmen, zu wechseln oder abzulehnen. In Absatz 5 der Allgemeinen Bemerkung 22 des Menschenrechtsausschusses heißt es, dass die Religionsfreiheit "notwendigerweise die Freiheit einschließt, eine Religion oder Weltanschauung zu wählen, einschließlich insbesondere des Rechtes, seine gegenwärtige Religion oder Weltanschauung durch eine andere Religion oder Weltanschauung zu ersetzen oder einen atheistischen Standpunkt einzunehmen". In Absatz 9 des gleichen Kommentars heißt es weiterhin, dass "die Tatsache, dass eine Religion als staatliche Religion anerkannt oder als offizielle oder herkömmliche Religion eingebürgert ist oder dass ihre Anhänger die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, [...] in keiner Weise den Genuss eines der durch den Pakt, insbesondere durch Artikel 18 und 27, garantierten Rechte beeinträchtigen oder zu irgendeiner Diskriminierung der Anhänger anderer Religionen oder von Nichtgläubigen führen [darf]".
Die marokkanische Verfassung schützt das Recht auf freie Meinungsäußerung in Kapitel 25. Darin heißt es, dass die Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung in all ihren Formen gewährleistet ist. Laut der Gerichtsakten des erstinstanzlichen Gerichts in Oued Zem zum Verfahren von Fatima Karima lehnte das Gericht jedoch das Argument, die strafrechtliche Verfolgung verstoße gegen ihr verfassungsmäßig garantiertes Recht auf freie Meinungsäußerung, mit dem Einwand ab, dass die Ausübung dieses Rechts mit den anderen in der Verfassung verankerten Werten vereinbar sein müsse, darunter auch mit der Präambel, in der es heißt, dass die marokkanische Identität durch die Annahme des Islams gekennzeichnet und Marokko eine Nation ist, die auf der islamischen Religion basiert.