Amnesty Journal Russische Föderation 19. Juli 2010

"Inguschetien lässt mich nicht los"

Sie war Chefredakteurin des einzigen oppositionellen ­Mediums in der russischen Teilrepublik Inguschetien, nun lebt sie im Pariser Exil. Ein Porträt der Künstlerin
und Journalistin Rosa Malsagova.

Von Matthias Sander

Beim Aussteigen aus der Metro am Pariser Börsenplatz fällt unter all den Anzugträgern eine Person sofort auf: Mit einer bäuerlich anmutenden Strickjacke und einem Kopftuch gekleidet bahnt sie sich entschlossen ihren Weg durch die Menge. Die Frau dreht sich um: Ja, es ist Rosa Malsagova, 53 Jahre alt, die russische, genauer gesagt inguschetisch-tschetschenische Künstlerin und Journalistin.

Der Börsenplatz mit seinen eindrucksvollen Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert ist eine fast surreale Kulisse, wenn man die von Kriegen und Gewalt geprägte Geschichte von Rosa Malsagova kennt. Ihren schnellen Schritten kommt man kaum hinterher. Sind sie ein Zeichen der Entschlossenheit und Zielstrebigkeit dieser Frau, die in ihrem Pariser Asyl nie heimisch geworden ist? Oder angesichts von Todesdrohungen und Abhörmaßnahmen schlicht Vorsicht? Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.

Im Gespräch ist Rosa Malsagova ruhig, aber bestimmt. Sie spreche wie eine Schauspielerin, sagt die Dolmetscherin. Auch Malsagovas Gestik lässt erahnen, dass sie 20 Jahre lang Schauspielerin, Regisseurin und Intendantin eines Puppentheaters in Grosny war, der tschetschenischen Hauptstadt. Während des ersten Tschetschenienkrieges floh sie nach Nasran, der größten Stadt der westlichen Nachbarrepublik Inguschetien, die sehr viele Flüchtlinge aus Tschetschenien aufnahm. Malsagova bringt es dort zur Regisseurin des Nationaltheaters.

"Ich war von der Politik weit entfernt", sagt sie über ihre Theaterkarriere. "Wenn, dann fand das Politische in mir seinen Ausdruck im Theater, in den Stücken, aber nicht außerhalb der Bühne." Mit dem Berliner Regisseur Peter Krüger versuchte sie 2005, Brechts "Mutter Courage und ihre Kinder" in Inguschetien auf die Bühne zu bringen. Inzwischen regierte der ehemalige KGB-Mann Murat Sjasikow mit autoritären Methoden die Teilrepublik. "Das Stück wurde aus politischen Gründen abgelehnt. Ich habe dafür gekämpft, dass es doch gezeigt wird." Das Stück kann schließlich zwei Mal aufgeführt werden, doch das Fernsehen verweigert die zugesagte Übertragung.

Als sie 2006 in Berlin ein Filmfestival besuchte, bei dem ein mit Krüger gedrehter Film gezeigt wurde, verabschiedete sich Malsagova von ihrem bisherigen Selbstverständnis: "Da habe ich endgültig den Weg des Politischen eingeschlagen."

Sie habe verstanden, welche Freiheiten man hierzulande genieße: "Die Leute konnten zeigen, was sie wollten, Ausstellungen, Fotos, Filme." Wie anders die Situation in Inguschetien: Das Theater in Nasran hatte sie zuvor fristlos entlassen – wegen einer negativen Äußerung über die politischen Machthaber. Was sie gesagt hatte? "Ich habe wenig Vertrauen in die Regierung und die Politiker. Ich glaube weder, dass sie in der Lage sind, noch den Wunsch ­haben, unser Leben zu verbessern." Von der Harmlosigkeit dieser Sätze abgesehen: Was soll eine Frau mit ihren Erfahrungen anderes sagen?

Malsagova stand in ihrer Heimat vor dem Nichts, zog nach Moskau und wurde Journalistin. Zwei Jahre lang schrieb sie dort für die kaukasische Zeitschrift "Dosch", die Aktivisten der ­Organisation "Memorial" sowie andere Menschenrechtler beschäftigt. Parallel wurde Malsagova Chefredakteurin des einzigen ­oppositionellen Mediums in Inguschetien, der Webseite ­ingushetiya.ru. Für das Portal schrieben anonyme Autoren, die oft aus den Schaltzentralen der Macht über die Auswüchse des "Kampfes gegen den islamistischen Terror" berichteten. Auch kritische Stimmen gegen den damaligen Präsidenten Murat Sjasikow kamen zu Wort. Die Arbeit von ingushetiya.ru wurde jedoch immer wieder stark behindert.

Im Juni 2008 verbot ein Moskauer Gericht die Seite wegen "Verbreitung von extremistischen Ansichten", "Versuchs nationaler Spaltung" und "Verleumdung des Staatsoberhaupts". Am 31. August 2008 wurde der Betreiber der Seite, Magomed Jewlojew, in Nasran erschossen. Dann blockierte der Provider die Internetadresse, die daraufhin umzog und sich ingushetiyaru.org nannte. Rosa Malsagova befand sich bereits seit dem 5. August 2008 auf Anraten von Freunden in Paris. Anfangs führte sie die Webseite mit Hilfe von "Reporter ohne Grenzen" weiter.

Im Oktober 2008 übernahm Junus-Bek Jewkurow das ­Präsidentenamt in Inguschetien. Auch viele Mitarbeiter von ­ingushetiya.ru setzten Hoffnungen in die neue Regierung. Malsagova hält ihm zugute, dass er, anders als seine Vorgänger, zunächst nicht auf Gewalt setzte. Seit jedoch im Juni 2009 ein Anschlag auf Jewkurow verübt wurde, bei dem er schwer verletzt wurde, ist die Situation bedrohlicher als je zuvor. Laut "Maschr", einer Organisation für Opferangehörige, gab es 2009 insgesamt 260 Tote, sowohl Zivilisten als auch Milizangehörige. Die Internetseite kavkaz-uzel.ru spricht gar von 319 Toten allein durch Bombenanschläge. Auch für Malsagova kommt jetzt die Bedrohung von anderer Seite: Islamisten drohen ihr mit dem Tod.

Die martialischen Ankündigungen der Moskauer Regierung nach den Anschlägen vom 29. März, bei denen zwei Selbstmord­attentäterinnen aus der nordkaukasischen Teilrepublik Dages­tan in der Moskauer U-Bahn 40 Menschen töteten, überraschen sie nicht: "Der Nordkaukasus stand schon vor den Anschlägen vor einem offenen Krieg", sagt Malsagova.

Die erträumte Heimkehr liegt für Malsagova derzeit in weiter Ferne. Doch auch in Frankreich, dessen Sprache sie nicht spricht, ist sie nicht richtig angekommen: Sie wohnt in einem Hotel und hat keine Aufenthaltsgenehmigung, weil sie dafür ­regelmäßig arbeiten müsste. Dies ist aber wegen ihrer drei minderjährigen Kinder kaum möglich. Sie wird auf Podiumsdiskussionen eingeladen, im Januar etwa von der französischen Amnesty-Sektion, die das von offizieller Seite veranstaltete "französisch-russische Jahr" kritisch begleitet. Inguschetien lässt die Journalistin nicht los: "Körperlich bin ich in Paris, aber mit meinem Kopf in Inguschetien", sagt Rosa Malsagova.

Der Autor ist freier Journalist und berichtet regelmäßig aus Frankreich.

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