Amnesty Report Palästinensische Autonomiegebiete 20. Mai 2017

Palästina 2017

Amnesty Report 2016 / 2017

Die palästinensischen Behörden im Westjordanland und die De-facto-Verwaltung der Hamas im Gazastreifen schränkten auch 2016 das Recht auf freie Meinungsäußerung ein, nahmen willkürlich Kritiker und politische Gegner fest und inhaftierten sie. Außerdem beschnitten sie das Recht auf Versammlungsfreiheit und setzten in einigen Fällen exzessive Gewalt ein, um Protestaktionen zu beenden. Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten waren sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland an der Tagesordnung. Im Gazastreifen wurden weiterhin Zivilpersonen vor Militärgerichte gestellt und erhielten keine fairen Verfahren. Im Westjordanland wurden Gefangene ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren festgehalten. Frauen und Mädchen litten unter Diskriminierung und Gewalt. Im Gazastreifen verhängten Gerichte weiterhin Todesurteile, und die Hamas nahm Hinrichtungen vor. Im Westjordanland gab es weder Todesurteile noch Hinrichtungen.

HINTERGRUND

Die Verhandlungen zwischen Israel und der von Präsident Mahmoud Abbas geleiteten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) wurden trotz internationaler Bemühungen auch 2016 nicht wieder aufgenommen. Anhaltende Spannungen zwischen den Parteien Fatah und Hamas schwächten die im Juni 2014 gebildete Nationale Einheitsregierung. Im Gazastreifen übte de facto weiterhin die Hamas die Macht aus.

Die israelischen Streitkräfte hielten die seit Juni 2007 ununterbrochene Luft-, Land- und Seeblockade des Gazastreifens auch 2016 aufrecht. Die im Rahmen der Blockade geltenden Importbeschränkungen für Baumaterial sowie Mittelkürzungen führten zu massiven Verzögerungen beim Wiederaufbau von Wohnhäusern und Infrastruktureinrichtungen, die bei den bewaffneten Konflikten mit Israel in den vergangenen Jahren zerstört oder beschädigt worden waren. Die anhaltenden Exportbeschränkungen lähmten die Wirtschaft und trugen zu einer weiteren Verarmung der 1,9 Mio. Einwohner des Gazastreifens bei. Die ägyptischen Behörden hielten 2016 den Grenzübergang Rafah fast das gesamte Jahr über geschlossen, was zu einer vollständigen Isolation des Gazastreifens führte und die Auswirkungen der israelischen Blockade noch verstärkte.

Im Juni 2016 kündigte Ministerpräsident Rami Hamdallah Kommunalwahlen für den 8. Oktober 2016 an. Palästinas Oberstes Gericht entschied allerdings im September, dass die Wahlen mindestens bis Dezember 2016 verschoben werden müssten. Zur Begründung hieß es, Palästinenser in Ost-Jerusalem könnten aufgrund israelischer Kontrollen ihr Wahlrecht nicht ausüben. Außerdem seien die lokalen Gerichte im Gazastreifen, die über Kandidatenlisten entschieden, unrechtmäßig. Vor der Urteilsverkündung hatten sowohl die Behörden im Westjordanland als auch jene im Gazastreifen Kandidaten des jeweils gegnerischen politischen Lagers schikaniert und inhaftiert. Am 4. Oktober entschied dann das palästinensische Kabinett, die Kommunalwahlen zunächst um vier Monate zu verschieben.

In Nablus, Jenin und anderen Gebieten im Norden des Westjordanlandes nahmen die Spannungen 2016 merklich zu, als der Fatah nahestehende bewaffnete Männer mit Sicherheitskräften zusammenstießen und einige Personen getötet wurden.

GESETZLICHE, VERFASSUNGSRECHTLICHE UND INSTITUTIONELLE ENTWICKLUNGEN

Nachdem Präsident Abbas das Jugendschutzgesetz im Februar 2016 unterzeichnet hatte, konnte im März 2016 in Ramallah das erste Jugendgericht im Westjordanland eingerichtet werden.

Im Februar 2016 stimmte Präsident Abbas dem Nationalen Versicherungsgesetz zu, das erstmals ein staatliches Sozialversicherungssystem für im Privatsektor Beschäftigte und ihre Familien einführte. Das neue Gesetz sieht u. a. Rentenzahlungen für ältere und behinderte Menschen sowie eine Arbeitsunfallversicherung für Arbeitnehmer im palästinensischen Privatsektor vor. Zivilgesellschaftliche Organisationen kritisierten, das neue Gesetz sichere keine Mindeststandards in Bezug auf Absicherung und soziale Gerechtigkeit und könne zu einer weiteren Marginalisierung der Schwächsten beitragen.

Im April 2016 wurde per Präsidialdekret ein palästinensischer Oberster Verfassungsgerichtshof eingerichtet, der sich aus neun Richtern zusammensetzt und allen anderen palästinensischen Gerichten übergeordnet ist. Dieser Schritt wurde von vielen als beispiellose Einmischung der Exekutive in die Judikative bewertet. Im Oktober 2016 wurde der Vorsitzende des Oberen Justizrats seines Amtes enthoben. Er sagte in einem Presseinterview, man habe ihn bereits bei seinem Amtsantritt dazu gezwungen, ein undatiertes Rücktrittsschreiben zu unterzeichnen.

Im Dezember 2016 hob Präsident Abbas die Immunität von fünf Parlamentsabgeordneten auf, nachdem der Oberste Verfassungsgerichtshof entschieden hatte, dass er dazu befugt sei. Zu den betroffenen Abgeordneten zählten auch Kritiker des Präsidenten. Zivilgesellschaftliche Organisationen kritisierten, das Vorgehen des Präsidenten untergrabe die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung.

Palästina ratifizierte im Juni 2016 die in Kampala (Uganda) beschlossene Änderung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs bezüglich des Verbrechens der Aggression. Vertreter der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs statteten Israel und dem Westjordanland einen Besuch ab, reisten jedoch nicht in den Gazastreifen.

WILLKÜRLICHE FESTNAHMEN UND INHAFTIERUNGEN

Sowohl im Westjordanland als auch im Gazastreifen gingen die Behörden 2016 mit willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen gegen Kritiker und Anhänger des gegnerischen politischen Lagers vor. Im Westjordanland waren dafür insbesondere der Präventive Sicherheitsdienst und der Allgemeine Geheimdienst verantwortlich, im Gazastreifen die Interne Sicherheitsbehörde. Im Westjordanland hielten Sicherheitskräfte Gefangene auf der Basis von Anordnungen regionaler Gouverneure ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren monatelang in Verwaltungshaft.

UNFAIRE GERICHTSVERFAHREN

Weder im Westjordanland noch im Gazastreifen gelang es der politischen Führung und den Justizbehörden, grundlegende Verfahrensrechte zu gewährleisten, wie z. B. den sofortigen Zugang zu einem Rechtsbeistand und die Freilassung von Häftlingen, gegen die keine Anklage erhoben wurde. Im Westjordanland hielten palästinensische Sicherheitskräfte 2016 weiterhin Personen auf der Basis von Anordnungen regionaler Gouverneure über lange Zeit ohne Gerichtsverfahren fest und verschleppten oder ignorierten in zahlreichen Fällen gerichtliche Aufforderungen, Häftlinge freizulassen. Im Gazastreifen wurden Angeklagte, darunter auch Zivilpersonen, weiterhin vor Militärgerichte der Hamas gestellt und in unfairen Gerichtsverfahren verurteilt, in einigen Fällen sogar zum Tode.

FOLTER UND ANDERE MISSHANDLUNGEN

Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen waren 2016 sowohl im Westjordanland als auch im Gazastreifen nach wie vor weit verbreitet. Die palästinensische Polizei und andere Sicherheitskräfte im Westjordanland wurden dafür ebenso wenig zur Verantwortung gezogen wie die Polizei und andere Sicherheitskräfte der Hamas im Gazastreifen. In beiden Gebieten zählten auch Minderjährige zu den Opfern. Die offizielle palästinensische Menschenrechtskommission (Independent Commission for Human Rights – ICHR) erhielt nach eigenen Angaben von Januar bis November 2016 insgesamt 398 Beschwerden über Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen, 163 aus dem Westjordanland und 235 aus dem Gazastreifen. Die Beschwerden richteten sich in beiden Gebieten mehrheitlich gegen die Polizei. Weder die Nationale Einheitsregierung noch die De-facto-Verwaltung der Hamas im Gazastreifen leiteten unabhängige Untersuchungen der Foltervorwürfe ein oder zogen die Täter zur Rechenschaft.

Basel al-Araj, Ali Dar al-Sheikh und drei weitere Männer gaben an, von Angehörigen des Allgemeinen Geheimdienstes nach ihrer Festnahme am 9. April 2016 fast drei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten, gefoltert und anderweitig misshandelt worden zu sein. Sie berichteten, die Geheimdienstmitarbeiter hätten sie geschlagen, sie gezwungen, in schmerzhaften Positionen zu verharren, und sie mit Schlafentzug gequält. Als die Gefangenen am 28. August aus Protest in einen Hungerstreik traten, verlegten die Geheimdienstmitarbeiter sie für die Zeit ihres Hungerstreiks in Einzelhaft. Sie wurden gegen Kaution freigelassen und am 8. September 2016 vor das Amtsgericht in Ramallah gestellt, u. a. wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Ende 2016 war das Verfahren noch nicht abgeschlossen.

Ahmad Izzat Halaweh starb am 23. August 2016 im Jeneid-Gefängnis in Nablus, kurz nach seiner Festnahme. Ein Sprecher der Nationalen Einheitsregierung teilte mit, der Häftling sei vor seinem Tod von Sicherheitskräften heftig geschlagen worden. Es wurden Ermittlungen unter Leitung des Justizministers eingeleitet, die Ende 2016 noch nicht abgeschlossen waren.

RECHTE AUF MEINUNGS-, VEREINIGUNGS- UND VERSAMMLUNGSFREIHEIT

Sowohl die Nationale Einheitsregierung als auch die Hamas im Gazastreifen schränkten die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit 2016 weiterhin empfindlich ein. Die Sicherheitskräfte schikanierten Kritiker und Anhänger des jeweils gegnerischen politischen Lagers, nahmen sie fest und inhaftierten sie. Sie gingen in beiden Gebieten mit exzessiver Gewalt gegen Demonstrationen vor und griffen Journalisten und andere Personen an.

Im Westjordanland nahm die Polizei im Februar 2016 den Universitätsprofessor Abd al-Sattar Qassem fest, nachdem er sich im Hamas-nahen Fernsehsender al-Quds kritisch über die palästinensischen Behörden geäußert hatte. Er wurde wegen Aufwiegelung angeklagt und nach fünf Tagen in Gewahrsam gegen Kaution freigelassen.

Im September 2016 hielt die Interne Sicherheitsbehörde im Gazastreifen den Journalisten Mohamed Ahmed Othman für kurze Zeit in Haft. Er berichtete, er sei gefoltert und anderweitig misshandelt worden, um ihn zu zwingen, die Quelle eines von ihm veröffentlichten Regierungsdokuments preiszugeben. Am darauffolgenden Tag kam er ohne Anklageerhebung frei. An den beiden Tagen nach seiner Entlassung wurde er noch zweimal zum Verhör einbestellt.

Im Februar 2016 war ein zweitägiger Streik von Lehrkräften im Westjordanland, die gegen niedrige Löhne protestierten, Auslöser für Massenstreiks und Protestkundgebungen, die mehrere Wochen andauerten. Die palästinensischen Sicherheitskräfte gingen mit großer Härte gegen die Demonstrierenden vor. Sie errichteten rund um Ramallah Straßensperren, um Lehrkräfte davon abzuhalten, an Protesten teilzunehmen. 22 Lehrkräfte wurden festgenommen und später ohne Anklageerhebung wieder freigelassen. Jedoch wurden auch in den folgenden Monaten Lehrkräfte schikaniert, besonders diejenigen, die sich für die Bildung einer neuen Gewerkschaft einsetzten.

RECHTSWIDRIGE TÖTUNGEN

Im Westjordanland töteten Sicherheitskräfte bei Einsätzen mindestens drei Männer und verletzten weitere Personen.

Am 7. Juni 2016 wurde Adel Nasser Jaradat in Silet al-Harethiya, einem Dorf nordwestlich von Jenin, von Sicherheitskräften des Westjordanlands erschossen. Die Behörden zogen die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft.

Am 19. August 2016 töteten Sicherheitskräfte in Nablus Fares Halawa und Khaled al-Aghbar unter ungeklärten Umständen. Die Behörden betonten zwar, die beiden Männer seien bei Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften getötet worden, Zeugen gaben jedoch an, die Männer seien am Leben und unbewaffnet gewesen, als sie von Sicherheitskräften ergriffen wurden. Die Ermittlungen zu dem Fall waren Ende 2016 noch nicht abgeschlossen.

Im Gazastreifen richtete der militärische Flügel der Hamas (’Izz al-Din al-Qassam-Brigaden) am 7. Februar 2016 eines seiner Mitglieder im Schnellverfahren hin. Zuvor hatte die Gruppe bekanntgegeben, ihre "Militär- und Scharia-Gerichtsbarkeit" habe Mahmoud Rushdi Ishteiwi wegen "ausschweifendem Verhalten und moralischer Verfehlungen" zum Tode verurteilt. Nach Angaben seiner Familie hatten die Brigaden ihn seit dem 21. Januar 2015 ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten. Die De-facto-Verwaltung der Hamas im Gazastreifen leitete keine Schritte zur Untersuchung des Falles ein und zog die Täter nicht zur Rechenschaft.

RECHTE VON FRAUEN UND MÄDCHEN

Frauen und Mädchen wurden 2016 weiterhin durch Gesetze sowie im täglichen Leben diskriminiert. Sie waren immer noch unzureichend gegen sexualisierte Gewalt und andere Gewalttaten, wie z. B. sogenannte Ehrenmorde, geschützt. Berichten zufolge wurden nach wie vor Frauen und Mädchen von männlichen Verwandten im Namen der "Familienehre" ermordet.

Im Februar 2016 gab der Generalstaatsanwalt die Einrichtung einer speziellen Ermittlungseinheit bekannt, um Fälle von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen.

TODESSTRAFE

Die Todesstrafe blieb 2016 für Mord und andere Verbrechen in Kraft. Im Westjordanland verhängten Gerichte 2016 keine Todesurteile.

Im Mai 2016 ebneten Mitglieder des Blocks für Wandel und Reform, der Parlamentarierfraktion der Hamas im Gazastreifen, den Weg dafür, dass die Behörden des Gazastreifens auch Gefangene hinrichten können, deren Todesurteile nicht vom palästinensischen Präsidenten unterzeichnet wurden. Dies bedeutet sowohl eine Verletzung des palästinensischen Grundgesetzes aus dem Jahr 2003 als auch der Strafprozessordnung von 2001.

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