Amnesty Report Venezuela 09. Mai 2015

Venezuela 2015

 

Die Sicherheitskräfte lösten Protestveranstaltungen unter Einsatz exzessiver Gewalt auf. Zahlreiche Personen wurden willkürlich festgenommen und ohne Zugang zu Rechtsbeiständen und Ärzten festgehalten. Berichten zufolge wurden Demonstrierende und unbeteiligte Passanten gefoltert und anderweitig misshandelt.

Justizmechanismen wurden weiterhin dazu genutzt, um Regierungskritiker zum Schweigen zu bringen. Personen, die für den Schutz der Menschenrechte eintraten, waren Einschüchterungsversuchen und Angriffen ausgesetzt. In den Gefängnissen herrschten nach wie vor harte Haftbedingungen.

Hintergrund

Das erste Amtsjahr von Präsident Maduro war durch zunehmende Unzufriedenheit gekennzeichnet. Zwischen Februar und Juli 2014 wurden weite Teile Venezuelas durch Massendemonstrationen von Regierungsanhängern und Regierungskritikern erschüttert. Personen, die gegen die Regierung protestierten, und einige Spitzenpolitiker der Oppositionsparteien, die den Präsidenten zum Rücktritt aufforderten, wurden beschuldigt, die Regierung stürzen zu wollen.

Versammlungsfreiheit

Zwischen Februar und Juli 2014 wurden bei Massendemonstrationen für und gegen die Regierung mindestens 43 Personen getötet und mehr als 870 verletzt. Zu den Opfern gehörten neben Protestierenden auch Angehörige der Sicherheitskräfte und unbeteiligte Zuschauer. Es gab Berichte über Menschenrechtsverletzungen und gewaltsame Zusammenstöße zwischen Demonstrierenden und den Sicherheitskräften sowie bewaffneten regierungsnahen Gruppen.

Im Zusammenhang mit den Protesten wurden mehr als 3000 Personen inhaftiert. Die meisten wurden angeklagt und nach einigen Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt. Ende 2014 befanden sich noch über 70 Personen, die an den Demonstrationen teilgenommen hatten, in Untersuchungshaft.

Es bestanden Befürchtungen, dass ein im März 2014 vom Obersten Gerichtshof gefälltes Urteil, dem zufolge jeglicher Protest vorab genehmigt werden muss, die Rechte auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gefährden könnte.

Exzessive Gewaltanwendung

Die Sicherheitskräfte wendeten exzessive Gewalt an, um Protestkundgebungen aufzulösen. Zu den dabei eingesetzten Mitteln gehörten der Gebrauch scharfer Munition aus kurzer Distanz gegen unbewaffnete Personen, die Verwendung unangemessener Schusswaffen und manipulierter Ausrüstung zur Aufstandsbekämpfung sowie der Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen in geschlossenen Bereichen.

Ein Beispiel ist der Fall der Studentin Geraldín Moreno, die im Februar 2014 starb, drei Tage nachdem sie bei einem Protest in Valencia im Bundesstaat Carabobo aus kurzer Distanz mit Gummigeschossen am Auge getroffen worden war. Im Zusammenhang mit ihrem Tod wurden Beamte der Nationalgarde angeklagt. Sie befanden sich Ende 2014 noch in Untersuchungshaft. Im selben Monat wurde Marvinia Jiménez von Polizeibeamten geschlagen, während sie eine Protestkundgebung in Valencia filmte. Sie wurde u.a. beschuldigt, den Verkehr auf einer öffentlichen Straße behindert und die öffentliche Ordnung gestört zu haben.

Die Zustellung des Haftbefehls gegen einen Beamten, der die Verantwortung dafür trug, dass sie geschlagen worden war, stand zum Jahresende 2014 noch aus. Im April 2014 befand sich der 16-jährige John Michael Ortiz Fernández auf dem Balkon seines Hauses in San Cristóbal im Bundesstaat Táchira, als ein Polizist ein Gummigeschoss auf ihn abfeuerte und die Netzhaut seines linken Auges verbrannte. Ende 2014 waren die Ermittlungen zu dem Vorfall noch nicht abgeschlossen.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen

Zahlreiche Personen, die während der Proteste zwischen Februar und Juli 2014 festgenommen worden waren, wurden willkürlich inhaftiert. Viele von ihnen erhielten während der ersten 48 Stunden ihrer Haft, nach deren Ablauf sie einem Richter vorgeführt wurden, keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand ihrer Wahl und zu medizinischer Versorgung.

Im April und Mai 2014 wurden der Anwalt Marcelo Crovato und der Menschenrechtsverteidiger Rosmit Mantilla in Verbindung mit den Protesten festgenommen. Sie befanden sich seitdem in Untersuchungshaft, obwohl keine stichhaltigen Beweise gegen sie vorlagen.

Folter und andere Misshandlungen

Folter und Misshandlungen gaben weiterhin Anlass zur Besorgnis, auch wenn mit dem im Jahr 2013 verabschiedeten Sondergesetz zur Verhütung und Bestrafung von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Ley Especial para Prevenir y Sancionar la Tortura y otros Tratos o Penas Crueles, Inhumanos o Degradantes) ein kleiner Fortschritt erzielt wurde.

Der Student Daniel Quintero wurde während seiner Haft geschlagen und damit bedroht, lebendig verbrannt zu werden. Er war im Februar 2014 auf dem Heimweg von einer regierungskritischen Demonstration in Maracaibo im Bundesstaat Zulia festgenommen worden. Eine Untersuchung der von ihm erhobenen Foltervorwürfe war Ende 2014 noch nicht abgeschlossen.

Während einer am 19. März 2014 von der Nationalgarde und der Armee in Rubio im Bundesstaat Táchira gemeinsam durchgeführten Operation wurden mindestens 23 Personen inhaftiert. In Haft wurden sie getreten, geschlagen und mit dem Tod und sexueller Gewalt bedroht. Alle Gefangenen, sowohl Männer als auch Frauen, wurden gemeinsam im selben Raum festgehalten, davon mehrere Stunden lang mit verbundenen Augen. Sie konnten hören, wie Personen, die sich in ihrer Nähe befanden, geschlagen wurden.

Mindestens ein Gefangener wurde gezwungen, dabei zuzuschauen, wie ein anderer geschlagen wurde. Gloria Tobón wurde mit Wasser übergossen und mit Elektroschocks an Armen, Brüsten und Genitalien gefoltert. Ihr wurde angedroht, dass sie getötet und ihr Körper in Einzelteilen vergraben würde. Ende 2014 waren die Ermittlungen zu den von ihr angezeigten Foltervorwürfen noch nicht abgeschlossen.

Im Februar 2014 hielten Angehörige der Nationalgarde den 21-jährigen Wuaddy Moreno Duque in La Grita im Bundesstaat Táchira an. Sie beschuldigten ihn, an Protesten teilgenommen zu haben, schlugen ihn und fügten ihm Brandwunden zu. Nachdem er und seine Familie offiziell Anzeige erstattet hatten, wurden sie eingeschüchtert.

Menschenrechtsverteidiger

Menschenrechtsverteidiger waren weiterhin Angriffen ausgesetzt. Beispielsweise wurden zwei Angehörige der Aktivistengruppe Venezolanische Beobachtungsstelle für die Gefängnisse (Observatorio Venezolano de Prisiones) mehrmals bedroht und eingeschüchtert. Am 12. April 2013 erhielten Marianela Sánchez und ihre Familie eine anonyme Morddrohung. Sie erstattete Anzeige, doch die Behörden hatten bis Ende 2014 noch keine effektiven Ermittlungen hinsichtlich der Drohung eingeleitet oder Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, die in Einklang mit den Wünschen der Familie standen.

Die Behörden versuchten wiederholt, die Menschenrechtsarbeit von Humberto Prado zu diskreditieren und beschuldigten ihn, in Gewalttätigkeiten bei Protestaktionen verwickelt zu sein und konspirativen Aktivitäten zur Destabilisierung der Regierung und des Strafvollzugssystems nachzugehen.

Justizsystem

Die Regierung Venezuelas nahm Einfluss auf das Justizsystem. Das geschah insbesondere in Fällen, in die Regierungskritiker oder Personen verwickelt waren, denen unterstellt wurde, gegen die Interessen der Behörden zu handeln.

Ein Beispiel ist der Fall der Richterin María Lourdes Afiuni Mora, die im Dezember 2009 inhaftiert worden war. Ihre Festnahme erfolgte nur wenige Stunden nach ihrer Anordnung, einen der Korruption beschuldigten Bankier auf freien Fuß zu setzen. Ihre Entscheidung war vom ehemaligen Präsidenten Hugo Chávez öffentlich verurteilt worden. Im Juni 2013 wurde sie aus humanitären Gründen gegen Zahlung einer Kaution vorläufig freigelassen. Ende 2014 war das Verfahren gegen sie noch anhängig.

Leopoldo López, Führer der Oppositionspartei Voluntad Popular (Wille des Volkes), war weiterhin in Haft, obwohl keine Beweismittel zur Untermauerung der gegen ihn erhobenen – offensichtlich politisch motivierten – Vorwürfe vorlagen. Er war wegen Brandstiftung, Sachbeschädigung, Anstiftung zur Begehung eines Verbrechens und Verabredung zu einer Straftat angeklagt worden, worauf bis zu zehn Jahre Gefängnis stehen. Im August 2014 erklärte die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen seine Inhaftierung für willkürlich und forderte seine Freilassung.

Die UN-Arbeitsgruppe rief auch zur sofortigen Freilassung von Daniel Ceballos auf, Mitglied der Partei Voluntad Popular und Bürgermeister von San Cristóbal im Bundesstaat Táchira. Er war im März 2014 festgenommen und im Zusammenhang mit den regierungskritischen Protesten vom Februar 2014 wegen Rebellion und Verabredung zu einer Straftat angeklagt worden. Sein Verfahren war Ende 2014 noch anhängig.

Internationale Rechtsprechung

Nachdem Venezuela ein Jahr zuvor die Amerikanische Menschenrechtskonvention aufgekündigt hatte, fiel das Land ab September 2013 nicht mehr unter die Gerichtsbarkeit des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Als Folge können sich Betroffene von Menschenrechtsverletzungen nicht mehr an den Interamerikanischen Gerichtshof wenden, wenn das venezolanische Justizsystem ihre Rechte nicht garantiert.

Straflosigkeit

Die Kultur der Straflosigkeit gab weiterhin Anlass zur Sorge. Opfer von Menschenrechtsverletzungen und ihre Familien wurden bedroht. Beispielsweise machten die Ermittlungen und Gerichtsverfahren im Fall der Tötung von Mitgliedern der Familie Barrios im Bundesstaat Aragua kaum Fortschritte. Die Familie Barrios wird seit fast zwei Jahrzehnten wegen ihrer Forderungen nach Gerechtigkeit bedroht und eingeschüchtert.

Zwischen 1998 und Mai 2013 waren zehn Familienmitglieder unter Umständen getötet worden, die die Vermutung nahelegen, dass die Polizei daran beteiligt war. Nur in einem einzigen Fall, und zwar dem von Narciso Barrios, waren zwei Polizeibeamte verurteilt worden.

Andere Familienmitglieder waren Einschüchterungsversuchen und Angriffen durch die Polizei ausgesetzt, obwohl die Interamerikanische Menschenrechtskommission der Familie seit 2004 und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ihr seit jüngerer Zeit Schutzmaßnahmen zugesprochen hatte. Ende 2014 lagen keine Informationen darüber vor, ob die wegen Einschüchterung erstatteten Anzeigen gegen Polizeibeamte zu Ermittlungen geführt haben.

Haftbedingungen

Trotz der Reformen im Strafvollzugssystem waren die Haftbedingungen weiterhin hart. Fehlende medizinische Versorgung, der Mangel an Nahrung und sauberem Trinkwasser, die unhygienischen Bedingungen sowie die Überbelegung und die Gewalt in den Gefängnissen und Polizeiwachen gaben Anlass zur Besorgnis. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen in Gefängnissen wurden routinemäßig Schusswaffen und andere Waffen benutzt.

Während des ersten Halbjahrs 2014 meldeten Menschenrechtsorganisationen über 150 Todesfälle in Gefängnissen und sieben in Polizeigewahrsam.

Im November 2014 wurden zwei Gefängnisinsassen getötet und mindestens acht verletzt, als die Sicherheitskräfte eingriffen, um einen Aufstand im Gefängnis von San Francisco de Yare im Bundesstaat Miranda zu beenden, mit dem die Gefangenen gegen die harten Haftbedingungen und die Misshandlung von Häftlingen protestiert hatten.

Drei Jahre nach seinem Antrag und mehreren Verzögerungen bei seiner Verlegung in ein Krankenhaus, in dem sein medizinischer Behandlungsbedarf festgestellt werden konnte, erteilte ein Gericht dem ehemaligen Polizeikommissar Iván Simonovis im September 2014 die Erlaubnis, in seinem eigenen Haus unter Hausarrest medizinisch behandelt zu werden. Berichten zufolge soll er aufgrund der Bedingungen, unter denen er inhaftiert war, an einer Reihe gesundheitlicher Probleme leiden.

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