Blog 18. November 2014

Die harte Linie der angehenden Juristen – nur die Spitze des Eisbergs?

Die Nachricht schockiert: Ein Drittel in Erlangen befragter Jurastudierender in den Anfangssemestern befürwortet die Todesstrafe und Folter für bestimmte Straftaten. Gerade die zukünftigen Richterinnen, Anwälte, Staatsanwältinnen und anderen Entscheidungsträger, die unsere Rechtsordnung schützen sollen, setzen sich also in Widerspruch zu unserer Verfassung. Sie widersprechen zwei der kürzesten und prägnantesten Kernaussagen des Grundgesetzes: Artikel 102 Grundgesetz lautet "Die Todesstrafe ist abgeschafft." Artikel 1 Grundgesetz bestimmt "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

Als Juristin und Verfechterin der Menschenrechte bei Amnesty International hat mich diese Nachricht frustriert. Überrascht hat sie mich nicht. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass viele Jurastudenten leider insgesamt wenig politisches Interesse mitbringen und viel zu wenig kritisch hinterfragen, ob das was Recht ist, auch gerecht ist. Aber sie lernen hoffentlich noch dazu: Vorlesungen zu Grundrechten und zum Verfassungsrecht stehen auf dem Programm – Rechtsphilosophie und Verfassungsgeschichte können besucht werden. Dabei verinnerlichen sie das geltende Recht. Und an dieser Stelle ist die deutsche Verfassung zum Glück sehr deutlich: Keine Todesstrafe und keine Ausnahme vom absoluten Folterverbot!

Der Rest der Gesellschaft wird allerdings nicht im Verfassungsrecht und den Grundrechten geschult. Der Menschenrechtsschutz dominiert auch nicht gerade die öffentlichen Medien. Im Gegenteil, wer sich durch Fernsehen, Internet und Printmedien über die Entwicklungen in der Welt informiert, bekommt das Bild vermittelt: Überall in der Welt gibt es aktuell massive Krisen und bewaffnete Konflikte. Bedrohungen wie die durch den Islamischen Staat müssen abgewehrt werden – der Ruf nach harten Antworten, zur Not mit Hilfe militärischer Gewalt, ist laut.

Menschenwürde ist die Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft

Die Einhaltung der Menschenrechte bei diesen schwierigen Aufgaben ist kaum ein Thema und deswegen sehen wir hier eine wichtige Aufgabe von Amnesty International: Weltweit – auch in Deutschland – müssen wir in Endlosschleife klar machen, dass die Menschenrechte immer geachtet werden müssen, auch und gerade in Krisenzeiten, dass Konfliktbewältigung auf Kosten der Menschenrechte keinen Frieden bringt. Darum haben wir auch in diesem Jahr mit der weltweiten Kampagne "Stop Folter" einer der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen erneut den Kampf angesagt. Wir wollen im Bewusstsein der Gesellschaft verankern, dass Folter nie eine Lösung ist, dass Folter nie "das kleinere Übel" ist, sondern ein Aufgeben des Rechtsstaats bedeutet.

Es ist beunruhigend, wenn ausgerechnet die Gesetzeshüter von morgen die Grundlagen unserer Rechtsordnung nicht kennen oder in Frage stellen. Sie sollen doch in ihren späteren Berufen die Grenzen des Rechts aufzeigen und für die Einhaltung der Verfassung eintreten! Allerdings finde ich noch dramatischer, dass die Umfrageergebnisse für einen drohenden Geisteswandel der gesamten Gesellschaft stehen: Mit Bedacht stellten die Väter und Mütter des Grundgesetzes nach den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus die Menschenwürde jedes einzelnen an die Spitze der deutschen Rechtsordnung: "Die Würde des Menschen ist unantastbar!"

Dieser Schritt war mehr als reine Symbolik oder eine menschenrechtliche Anordnungsübung: Die Menschenwürde sollte auch Grundlage der gesamten deutschen Gesellschaftsordnung sein – auch jenseits des Rechts. Nur in einer Gesellschaft, in der die Menschenrechte jedes einzelnen Menschen als höchstes Gut gelten und nicht politischen, ideologischen oder sonstigen Zwecken geopfert werden, sind Menschen wirklich frei. Diese Errungenschaft – und bittere Lektion aus dem Nationalsozialismus – scheint derzeit wieder in Vergessenheit zu geraten.

Menschenrechte von einzelnen im Interesse aller opfern? Fataler Irrtum!

Es schleicht sich die Haltung ein, dass in besonderen Ausnahmefällen andere Schutzgüter wichtiger sein können als die Rechte des Einzelnen. Der 11. September 2001 gab eine Initialzündung für dieses Umdenken: Die hinterhältigen Akte terroristischer Gewalt wurden verständlicherweise als Angriffe einer neuen, nie dagewesenen Dimension wahrgenommen. Ein verhängnisvolles Zeichen an den Rest der Welt war jedoch die Reaktion der USA, wonach die neue Dimension an Bedrohung Antworten und Mittel jenseits der geltenden Rechtsordnung erfordere. Sie errichteten das Gefangenenlager Guantánamo, das CIA-Entführungs-Programm und ordneten Folter an (verpackt unter dem Begriff "verbesserte Vernehmungsmethoden"). Sie zeigten, dass es aus ihrer Sicht Situationen gibt, in denen fundamentale Menschenrechte ausgesetzt werden können. Ja, dass es sogar ein Gebot der Stunde sein kann, im Interesse aller die Menschenrechte einiger zu opfern. Das Fatale ist: Die Rechnung "Mehr Sicherheit für ein bisschen weniger Freiheit" geht nicht auf.

Sogenannte "Ticking Bomb"-Szenarien, in denen die gezielte Folter besonders gefährlicher Verbrecher unzählige Menschenleben rettet, sind rein fiktiv. Sie existieren in Fernsehserien wie "24", in denen Jack Bauer den Verdächtigen foltert, damit dessen Bombe nicht explodiert und einen Schulbus voller Kinder in den Tod reißt. In der Realität treffen diese brutalen Verhör-Maßnahmen oft genug, wie Guantánamo zeigt, unschuldige Personen. Für die Sicherheit ist dann nichts gewonnen - die Menschenrechte wurden "umsonst" verraten.

Schutz der Menschenwürde darf kein Luxus sein

Noch viel wichtiger als Wahrscheinlichkeitsüberlegungen ist aber: Eine Gesellschaft, die sich für die Freiheit und die Menschenrechte des einzelnen entscheidet, hat sich ebenfalls dafür entschieden, den unantastbaren Kern der Menschenrechte niemals abzuwägen. Folter macht einen Menschen zum Objekt, verletzt ihn seelisch und körperlich – macht ihn kaputt. Folter kann nur verhindert und tatsächlich abgeschafft werden, wenn der Staat ein für allemal auf sie verzichtet – immer und gegenüber jedem.

Die Einhaltung von Menschenrechten und der Schutz der Menschenwürde darf kein Luxus sein, den sich eine Gesellschaft nur in guten, friedlichen Zeiten "leistet". Im Gegenteil zeigt sich die Stärke einer freien, rechtsstaatlichen Gesellschaft dann, wenn sie vor Herausforderungen gestellt wird. Diese Erkenntnisse sind nicht mehr "common sense" in Deutschland. Stattdessen verbreitet sich die Denkweise: "Was sein muss, muss sein." "Diese Verbrecher haben es nicht anders verdient." Wer sich dem nicht anschließt, gerät leicht in den Verdacht, Terroristen und Kindermörder schützen zu wollen. Dabei ist es die Universalität der Menschenrechte, die geschützt werden muss und geschützt wird, wenn wir das absolute Folterverbot verteidigen (immerhin zwingendes Völkerrecht!). Die Universalität der Menschenrechte ist der Gegenentwurf zu Terror, dem – mit welcher Begründung auch immer – das Leben und die Würde von Menschen nichts wert sind.

Wir können nur hoffen, dass die befragten Jurastudenten am Ende ihres Studiums selbst für die Unantastbarkeit der Menschenwürde und gegen die Todesstrafe einstehen. Den Schutz von Menschenrechten sollten wir aber nicht den Juristinnen und Juristen überlassen: Die gesamte Gesellschaft muss den Wert einer Gesellschaftsordnung erkennen und verteidigen, die Menschenrechte ausnahmslos schützt!

Maria Scharlau hat Jura mit dem Schwerpunkt Völkerrecht an der Universität Münster studiert und 2010 das zweite juristische Staatsexamen in Berlin abgelegt. Seit 2001 engagiert sie sich ehrenamtlich bei Amnesty International und ist seit 2011 hauptamtliche Referentin für Internationales Recht bei Amnesty in Deutschland. Ihre Schwerpunkte sind der Schutz gegen Folter und das Kriegsvölkerrecht.

Mit der aktuellen Kampagne "Stop Folter" setzt sich Amnesty aktiv gegen Folter in verschiedenen Ländern ein. Hier können Sie uns unterstützen!

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