Amnesty Report Sudan 28. März 2023

Sudan 2022

Eine protestierende Menschenmenge mit sudanesischen Flaggen

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022 

Die Sicherheitskräfte gingen weiterhin mit exzessiver Gewalt gegen Proteste vor, töteten zahlreiche Demonstrierende und verletzten Tausende weitere. Protestteilnehmer*innen, darunter auch Minderjährige, wurden rechtswidrig inhaftiert und misshandelt. Einige fielen dem Verschwindenlassen zum Opfer. In der Region West-Darfur töteten und verletzten Milizen Hunderte Zivilpersonen. Vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) begann der Prozess gegen Ali Muhammad Ali Abd-Al-Rahman, der wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in West-Darfur angeklagt war. Die Behörden schränkten das Recht auf freie Meinungsäußerung stark ein und kappten im Vorfeld von Großdemonstrationen den Zugang zum Internet. Demonstrantinnen waren sexualisierten Übergriffen und Belästigungen ausgesetzt. Zahlreiche Menschen hatten nicht genug Nahrungsmittel und litten unter akutem Hunger. Es kamen weiterhin Flüchtlinge aus Äthiopien, Eritrea und dem Südsudan ins Land. Weil die internationale Gemeinschaft nicht genügend Mittel zur Verfügung stellte, mussten die Essensrationen der Flüchtlinge gekürzt werden.

Hintergrund

Ministerpräsident Abdalla Hamdok, der im Zuge des Militärputschs im Oktober 2021 entmachtet und im November 2021 wieder in sein Amt eingesetzt worden war, trat im Januar 2022 zurück und überließ dem Militär die vollständige Kontrolle über die Regierung. Das gesamte Jahr 2022 über kam es zu Protesten gegen die Machtübernahme des Militärs.

Im Mai 2022 wurde der vom Militär im Oktober 2021 verhängte Ausnahmezustand aufgehoben. Anschließend kamen landesweit 171 Häftlinge frei. Die ausgeweiteten Strafverfolgungsbefugnisse der Gemeinsamen Sudanesischen Sicherheitskräfte (Sudan Joint Security Forces) und andere Maßnahmen, die im Zuge des Ausnahmezustands beschlossen worden waren, blieben jedoch in Kraft.

Die seit dem Militärputsch andauernden Bemühungen um eine politische Lösung und einen glaubwürdigen demokratischen Übergang unter ziviler Führung wurden auf nationaler und internationaler Ebene weitergeführt. Am 5. Dezember 2022 unterzeichneten Vertreter*innen des zivilen Bündnisses Forces for Freedom and Change und die Militärführung eine Vereinbarung, die eine zweijährige Übergangsphase unter Führung eines von zivilen Parteien ausgewählten Ministerpräsidenten vorsah.

Der bewaffnete Konflikt in den Regionen Darfur und Blauer Nil dauerte an.

Exzessive Gewaltanwendung

Die Sicherheitskräfte gingen weiterhin mit exzessiver Gewalt gegen friedlich Protestierende vor. Wie die Vereinten Nationen Anfang September 2022 mitteilten, wurden seit dem Militärputsch am 25. Oktober 2021 bei Demonstrationen 117 Menschen getötet, darunter 20 Minderjährige. Schätzungsweise 7.700 Demonstrierende, darunter Tausende Kinder und Jugendliche, wurden schwer verletzt. Das Zentralkomitee Sudanesischer Ärzte (Central Committee of Sudan Doctors – CCSD) meldete, allein zwischen dem 6. Mai und dem 20. August 2022 habe es 21 Tote und 1.850 Verletzte gegeben. Die Straftaten wurden nicht untersucht, obwohl die Behörden dies zugesichert hatten.

Am 5. Mai 2022 berichtete das CCSD, der 23-jährige Mujtaba Abdel Salam Osman sei getötet worden, als ein Fahrzeug der Sicherheitskräfte Demonstrierende überfuhr. Nach Angaben der NGO Sudan Human Rights Monitor wurden an diesem Tag 73 Verletzte gemeldet, darunter 30, die Tränengas eingeatmet hatten, und elf, die von einem Polizeifahrzeug überrollt worden waren.

Am 30. Juni 2022 fanden landesweit Großdemonstrationen statt, um gegen den Militärputsch im Jahr 2021 zu protestieren. Das Datum war ausgewählt worden, weil das Militär am 30. Juni 1989 eine demokratisch gewählte Regierung gestürzt und Omar al-Bashir die Macht übernommen hatte, die er bis zu seiner Absetzung 2019 innehatte. Die Proteste knüpften auch an eine friedliche Demonstration vom 3. Juni 2019 an, die als "Marsch der Million" bekannt wurde. Sicherheitskräfte hatten den Marsch gewaltsam aufgelöst und mehr als 100 Teilnehmende getötet. Am 30. Juni 2022 setzten die Sicherheitskräfte erneut exzessive Gewalt ein, um die Proteste aufzulösen. Neun Demonstrierende wurden getötet, acht von ihnen mutmaßlich durch den Einsatz scharfer Munition, und mehr als 600 verletzt. Nach der blutigen Niederschlagung der Proteste gab es in der Hauptstadt Khartum mehrere Sitzblockaden, um die exzessive Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte anzuprangern.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen

Im Zuge breit angelegter Maßnahmen zur Unterdrückung jeglicher Kritik am Militärputsch von 2021 nahmen die Sicherheitskräfte Hunderte Demonstrierende rechtswidrig fest. Viele weitere fielen dem Verschwindenlassen zum Opfer; ihr Schicksal war Ende 2022 noch immer unbekannt. Der UN-Experte für die Menschenrechtssituation im Sudan und das Gemeinsame Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen im Sudan dokumentierten für den Zeitraum von Oktober 2021 bis April 2022 die willkürliche Festnahme und Inhaftierung von 1.293 Personen im Zusammenhang mit dem Militärputsch oder mit Protesten dagegen, davon waren 143 Frauen und 157 Kinder. Viele weitere Personen wurden für kurze Zeit festgehalten und ohne Anklage freigelassen.

Die Festnahmen erfolgten durch die Bereitschaftspolizei, die Zentrale Reservepolizei, Einheiten der Streitkräfte, nicht identifizierte Ordnungskräfte in Zivil und weitere Sicherheitskräfte. Sie misshandelten Demonstrierende und schreckten dabei auch nicht vor der vollständigen Entkleidung inhaftierter Kinder und der Androhung sexualisierter Gewalt gegen Frauen zurück.

Rechtswidrige Angriffe und Tötungen

Die Sicherheitskräfte ergriffen keine Maßnahmen, um die Zivilbevölkerung vor den das ganze Jahr andauernden wahllosen bewaffneten Angriffen zu schützen. Nach UN-Angaben töteten und verletzten Milizen in der Region West-Darfur Hunderte von Zivilpersonen. Im Oktober 2022 wurden bei Kämpfen zwischen ethnischen Gruppen im südlichen Bundesstaat Blauer Nil innerhalb von zwei Tagen mindestens 220 Menschen getötet. Laut UN gab es in diesem Bundesstaat ab Juli immer wieder schwere interethnische Auseinandersetzungen, bei denen mindestens 359 Menschen getötet und 469 verletzt wurden – sowohl Personen, die an den Kämpfen beteiligt waren, als auch unbeteiligte Zivilpersonen. Aufgrund der Kämpfe wurden mehr als 97.000 Zivilpersonen vertrieben. Die Regierung des Bundesstaats Blauer Nil verhängte einen 30-tägigen Ausnahmezustand und verbot Versammlungen.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Im April 2022 begann vor dem Internationalen Strafgerichtshof der Prozess gegen Ali Muhammad Ali Abd-Al-Rahman (auch bekannt als Ali Kushayb), der als wichtigster Anführer der Janjawid-Milizen in West-Darfur gilt. Die Anklage lautete auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in 31 Fällen in den Jahren 2003 und 2004 in West-Darfur.

Im August 2022 besuchte der Chefankläger des IStGH, Karim Khan, den Sudan und hielt sich dabei auch in Lagern für Binnenvertriebene in Darfur auf. Nach seinem Besuch forderte er den UN-Sicherheitsrat auf, sicherzustellen, dass das Verfahren gegen Ali Muhammad Ali Abd-Al-Rahman "der Beginn einer echten Rechenschaftspflicht und nicht eine trügerische Morgendämmerung" sei.

Gegen drei weitere Personen, darunter Omar al-Bashir, lagen Anklagen des IStGH vor, doch hatten die sudanesischen Behörden sie noch nicht an den Strafgerichtshof überstellt.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Medienfreiheit waren stark eingeschränkt. Journalist*innen und andere Medienschaffende wurden tätlich angegriffen, bedroht und schikaniert.

Am 13. Januar 2022 durchsuchten Sicherheitskräfte den Fernsehsender Alaraby in Khartum. Sie griffen vier Beschäftigte des Senders an, die vom Dach des Gebäudes aus eine Demonstration filmten, nahmen sie fest und zerstörten die Kameras. Am 19. Januar nahm die Polizei im Bundesstaat Süd-Kordofan eine Frau fest, weil sie in den Sozialen Medien einen Beitrag über die Rekrutierung von Kindern für die Armee gepostet hatte. Sie kam wieder frei, nachdem man sie auf Grundlage des Gesetzes über Internetkriminalität wegen Veröffentlichung falscher Informationen, Angriff auf die Integrität der sudanesischen Streitkräfte, Untergrabung und Bedrohung der nationalen Sicherheit sowie weiterer Vergehen angeklagt hatte.

Mehrere Gruppen, die die Freiheit des Internetzugangs weltweit überwachen, darunter NetBlocks, bestätigten, dass im Vorfeld der für den 30. Juni 2022 geplanten Großdemonstrationen (siehe "Exzessive Gewaltanwendung") der Internetzugang bei mehreren Dienstleistern im Sudan unterbrochen war. Nach 20 Stunden waren die Internetdienste wieder verfügbar.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Demonstrantinnen waren auch 2022 sexualisierten Übergriffen ausgesetzt. In West-Darfur erlitten Frauen und Mädchen nach wie vor geschlechtsspezifische Gewalt, was auch sexualisierte Gewalt in Verbindung mit dem Konflikt einschloss.

Nach Angaben des UN-Experten für die Menschenrechtssituation im Sudan verübten Angehörige der Gemeinsamen Sudanesischen Sicherheitskräfte und Bewaffnete in Zivil zahlreiche Menschenrechtsverstöße, darunter auch sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die sich an vorderster Front an den Protesten gegen den Militärputsch beteiligt hatten. Der UN-Experte verifizierte 13 Fälle von Vergewaltigung, Gruppenvergewaltigung, versuchter Vergewaltigung und anderen Formen sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt, die zwischen Oktober 2021 und April 2022 in Khartum im Zusammenhang mit den Protesten gegen den Militärputsch verübt wurden. Sie betrafen 14 Personen (zehn Frauen, ein Mädchen, einen Mann und zwei Jungen).

In Darfur wurden nach Angaben des UN-Experten bei interethnischen Auseinandersetzungen und Angriffen auf vertriebene Frauen und Mädchen acht Vergewaltigungen verübt, die 15 Frauen und fünf Mädchen betrafen. Bei den Tätern handelte es sich um bewaffnete Männer, von denen die meisten Militäruniformen trugen. Obwohl alle acht Fälle bei der Polizei angezeigt wurden, erfolgte nur in einem einzigen Fall der Vergewaltigung eines zwölfjährigen Mädchens in Nord-Darfur eine Festnahme.

Recht auf Nahrung

Nach UN-Angaben verschlechterte sich die Ernährungssituation im Verlauf des Jahres 2022 zunehmend. Schätzungen zufolge litt zwischen Juni und September fast ein Viertel der Bevölkerung unter akutem Hunger. Am stärksten betroffen waren die Regionen Nord-, West- und Zentral-Darfur, Khartum, Kassala und Weißer Nil. Bis zu 11,7 Millionen Menschen hatten nicht genügend Lebensmittel, von denen 3,1 Millionen als "Notfälle" eingestuft wurden. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) erklärte, der bewaffnete Konflikt in der Ukraine habe die Situation noch weiter verschärft, da der Sudan in den vergangenen Jahren auf Weizenimporte aus Russland und der Ukraine angewiesen gewesen sei.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Der Sudan nahm weiterhin Flüchtlinge aus Nachbarländern auf, vor allem aus dem Südsudan, aus Äthiopien und Eritrea. Im Laufe des Jahres kamen 20.000 Flüchtlinge aus dem Südsudan ins Land, vor allem in die Bundesstaaten Weißer Nil, Ost-Darfur, West-Kordofan und Süd-Kordofan. Im Osten des Landes und in der Region Blauer Nil trafen weiterhin Flüchtlinge aus Äthiopien ein. Nach UN-Angaben waren seit Beginn der Krise im Norden Äthiopiens im November 2020 bis Ende Juli 2022 rund 59.800 Menschen in den Sudan geflohen.

Da Hilfsgelder der internationalen Gemeinschaft in großem Umfang ausblieben, sah sich das Welternährungsprogramm (WFP) dazu gezwungen, die Lebensmittelrationen für Flüchtlinge im ganzen Land zu kürzen. Das WFP unterstützte im Sudan mehr als 550.000 Flüchtlinge. Ab Juli erhielten die Flüchtlinge nur noch die Hälfte des Standardwarenkorbs oder den entsprechenden Gegenwert in bar.

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