Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 04. Dezember 2017

Kichern über die Apokalypse

Dennis Hopper breitet in einer Szene aus Apocalypse Now seine Arme aus und lacht.

Der US-amerikanische Blick auf Vietnam. Dennis Hopper in "Apocalypse Now", 1979.

Der Sieger schreibt die Geschichte? Von wegen. Die USA verloren den Vietnamkrieg und behielten trotzdem die Deutungshoheit. Viet Thanh Nguyen hält mit "Der Sympathisant" humorvoll dagegen.

Von Maik Söhler

Auf den ersten Blick haben Folter und Geschichtsschreibung nichts gemein. Auf den zweiten Blick sieht es ­anders aus: "Beim Verhör geht es zuerst um den Geist, erst dann um den Körper", sagt ein CIA-Mann in Viet Thanh Nguyens Roman "Der Sympathisant", als er Verhörtechniken des US-Geheimdienstes an südvietnamesische Verbündete vermittelt. Da ist Saigon, die Hauptstadt des Südens, noch nicht an den Vietcong gefallen.

Nur wenige Jahre später ist es soweit, US-Militärs und -Diplomaten müssen Saigon Ende April 1975 unter starkem Beschuss verlassen. Mit ihnen dürfen auch einige US-treue Südvietnamesen in die USA reisen. Viet Thanh Nguyen widmet sich diesen Südvietnamesen, ­indem er einen namenlosen Erzähler in ihrem amerikanischen Exil platziert, der ausgerechnet für das Drehen des Vietnam-Spielfilms "Apocalypse Now" als Authentizitätsberater ange­heuert wird.

Es ist zwar eine klare Niederlage, die die USA in Vietnam erfahren, doch den folgenden Kampf um die Deutung der Ereignisse – also um den Geist – gewinnen die USA. Egal in welchen Medien, ob in Büchern oder Filmen, im Zentrum der Aufarbeitung stehen die USA, während sich die Vietnamesen mit Statistenrollen abfinden müssen. Ein Produkt dieses Geistes ist Francis Ford Coppolas "Apocalypse Now" aus dem Jahr 1979. Und nun soll also der Protagonist dieses Romans dem mächtigen US-Geist im Kino einen winzigen Hauch des realen Vietnams geben. An diesen Stellen sprüht "Der Sympathisant" nur so vor Lust am Spott, und der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Autor, der selbst 1975 mit seinen Eltern aus Saigon in die USA kam, spielt elegant mit der euphemistischen Rolle Hollywoods bei der Bewältigung der ersten militärischen Niederlage der USA.

Nguyens Protagonist ist ein Spion des kommunistischen Vietnams, der die in Kalifornien lebenden Exilvietnamesen beobachten soll. "Ich bin ein Spion, ein Schläfer, ein Maulwurf, ein Mann mit zwei Gesichtern", lautet der erste Satz des Romans. Ein Spionageroman ist "Der Sympathisant" aber nur am Rande, vielmehr besteht das Buch aus feinfühliger Prosa, die den "zwei Gesichtern" nachspürt, die das Verhältnis von US-Amerikanern und Vietnamesen prägen. Nicht nur der "Geist" des Krieges wird erkundet, sondern auch seine biografischen Folgen.

Hohe südvietnamesische Armeeangehörige erfahren in Los Angeles Demütigungen "durch das, was hier im Exil aus ihnen geworden war. Als Küchenhilfe, Kellner, Gärtner, Feldarbeiter, Fischer, Hilfsarbeiter, Wachmann oder einfach als Arbeitslose oder Unterbeschäftigte verschmolzen diese schäbigen Exemplare von Lumpenproletariern mit dem Hintergrund, vor dem sie gerade standen." Viet Thanh Nguyen arbeitet sich filigran durch die vielen Schichten materieller und kultureller Migrationsmissverständnisse und behält dabei die vietnamesischen Neu­ankömmlinge und die US-Mehrheitsgesellschaft gleichermaßen im Blick. Seine sprachliche Präzision und sein teils offener, teils versteckter Humor beeindrucken immer wieder.

Als der Protagonist schließlich nach Vietnam zurückkehrt und sein Handeln dort vor einem Politkommissar rechtfertigen muss, antwortet dieser: "Wir haben jetzt die Macht, und wir brauchen jetzt keine Franzosen oder Amerikaner mehr, die uns verarschen. Wir verarschen uns jetzt ganz wunderbar selbst." Wir lernen: Gerechtigkeit kann auch seltsame Formen annehmen.

Viet Thanh Nguyen: Der Sympathisant. Aus dem Amerika­nischen von Wolfgang Müller. Blessing, München 2017. 528 Seiten, 24,99 Euro.

Buchtipps

Ankommen in Europa

Die Migration nach Europa hält an und mit ihr bleiben auch einige politische und rechtliche Fragen: Welche Bedeutung wird den Menschenrechten in der europäischen und nationalen Migrationspolitik gegeben? Wie viele Menschen können unter welchen Bedingungen zuwandern? Wer erhält Asyl, wer wird "geduldet", wer abgeschoben? Wo handelt der Einzelstaat und wo die EU? All diesen Fragen stellt sich das Sachbuch "Flucht, Migration und die Linke in Europa". Die Herausgeber Michael Bröning und Christoph Mohr arbeiten für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung. Und so stehen auch über weite Strecken des Buches der Umgang und die ­Erfahrungen sozialdemokratischer Parteien in Europa mit Flucht und Migration im Vordergrund. Darüber hinaus fallen auch Schlaglichter auf Parteien und soziale Bewegungen aus dem linksliberalen Spektrum. Das Werk besteht aus zwei Teilen: Zum einen werden die tatsächliche Politik und die Handlungsoptionen linksliberaler Parteien quer durch Europa analysiert, zum anderen erfolgen "politische Einordnungen" zu Themen wie Migration und Gewerkschaften, Rassismus und Rechtspopulismus, Globalisierung und Grenzen. Von linksaußen bis liberal findet sich so gut wie jeder Standpunkt, dennoch kreist die Debatte vor allem um ein Wort: ­Integration. Ein intellektuell anregendes Buch, das sich ein­fachen Antworten auf drängende Fragen verweigert.

Michael Bröning/Christoph P. Mohr (Hg.): Flucht, ­Migration und die Linke in Europa. Dietz, Bonn 2017. 400 Seiten, 26 Euro.

Putins Russland

Sicher ist: Die Wahrung der Menschenrechte in Russland hat schon bessere Zeiten erlebt. Margareta Mommsen, emeritierte Professorin für Politikwissenschaft, widmet 40 Seiten ihres Sachbuches "Das Putin-Syndikat" Menschenrechtsverletzungen im russischen "Unrechtsstaat". Sie untersucht die Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja, des abtrünnigen Agenten Alexander Litwinenko und des Oppositionellen Boris Nemzow und benennt mit den Bereichen "selektive Justiz", "organisiertes Verbrechen" und "Geheimdienstmethoden" gleich drei Faktoren, die der Rechtsstaatlichkeit in Russland entgegenstehen. Ansonsten fällt die Deutung von Wladimir Putins Politik schwer: Wegen der Annexion der Krim wird Russland vom Westen ökonomisch sanktioniert, zugleich aber hat Putin der Welt mit dem Militäreinsatz in Syrien gezeigt, dass Russland als Akteur in politischen Krisen nicht übergangen werden sollte. Mommsen macht das Beste aus solchen Widersprüchen. Sie analysiert nüchtern das Personal, die Bündnispartner, die Strukturen, politischen Strategien und Themen, den Personenkult um Putin und die antiliberale Ideologie – all das präge die aktuelle Präsidentschaft und die Zukunft Russlands. Putins wichtigste Partner dabei sind Geheimdienstler und Militärs. Ein Who-is-who und ein analytisches Buch zugleich.

Margareta Mommsen: Das Putin-Syndikat. Russland im Griff der Geheimdienstler. C.H. Beck, München 2017. 251 Seiten, 14,95 Euro.

Entrechtetes Archipel

Ein kleines Buch holt inmitten der stürmischen Weltenläufe ein längst vergessenes Unrecht zurück ins Gedächtnis: "Die Stille von Chagos" heißt der nun ins Deutsche übersetzte Roman der auf Mauritius lebenden Theaterautorin und Journalistin Shenaz Patel. Und genau dort, auf Mauritius, mitten im Indischen Ozean, spielen große Teile der Handlung. Doch steht nicht Mauritius im Zentrum des Buches, sondern das ­einige Flugstunden entfernte Chagos-Archipel, eine Gruppe kleiner Eilande rund um die Hauptinsel Diego Garcia. Das Archipel gehört zum britischen Überseegebiet, die Briten haben es an die USA verpachtet, die dort eine Militärbasis unterhalten und sie bis heute als Luftwaffenstützpunkt nutzen – zuletzt im Krieg gegen den Irak und Afghanistan. Die Einwohner, die Chagossianer, wurden zwischen 1967 und 1973 gegen ihren Willen umgesiedelt und leben seither teils auf den Seychellen, teils auf Mauritius.

Viele Chagossianer verstehen bis heute nicht, wie es dazu kommen konnte und warum ihnen der Weg zurück versperrt ist. Über ihr Unverständnis, ihre Sehnsüchte und Wünsche schreibt Shenaz Patel und bezieht auch die Nachfahren mit ein, die auf Mauritius ökonomisch und sozial einen schweren Stand haben. Die Vertreibung lässt sich auch mit diesem Buch nicht rückgängig machen, dem Vergessen aber stellt sich "Die Stille von Chagos" entschieden entgegen.

Shenaz Patel: Die Stille von Chagos. Aus dem Fran­zösischen von Eva Scharenberg. Weidle, Bonn 2017. 160 Seiten, 18 Euro.

Weltrettung nächste Woche

"Gibt es einen Weg, all das noch zu retten?" Mit dieser Frage beginnt Peer Martin alle vier Kapitel seines schmalen Erzählbandes. Als Ich-Erzähler trägt er eine Liste mit Fragen mit sich herum: Fragen, die groß und gewichtig sind, Fragen, die die Zukunft der Welt betreffen. Auf der Suche nach Antworten spricht er mit seiner Hündin, einem Au-pair-Mädchen aus Deutschland, einem Flüchtling aus Somalia und seinem zehnjährigen Sohn. Fragt sie, was zu tun ist, gegen Hunger, Klimawandel, Fremdenhass, Rechtsruck, Fanatismus, Terror und Krieg und stellt dabei dem Schrecken der aktuellen Entwicklungen immer wieder die Schönheit Kanadas, das Land in dem der Autor lebt, entgegen. Konfrontiert die eigenen Zweifel und Ängste mit Ideen und Ansichten der anderen und verhandelt so kontrovers und nachvollziehbar Fragen des Miteinanders und Möglichkeiten des Handelns.

"Wir machen das als Projekt, die Weltrettung, nächste Woche", erzählt der zehnjährige Sohn. Und erklärt dem Vater, wie jeder Einzelne seinen Beitrag zur Weltrettung leisten kann, indem er sich eine für ihn lösbare Teilaufgabe aussucht. So, wie seine Klassenkameradin, die sich für die Umwelt einsetzt, indem sie Dosen sammelt. Und genau dazu ani­miert "Was kann einer schon tun?" – sich seiner eigenen Möglichkeiten bewusst zu werden, selbst aktiv zu werden, im Kleinen wie im Großen.

Peer Martin: Was kann einer schon tun? Oetinger, ­Hamburg 2017. 112 Seiten, 8,99 Euro. Ab 12 Jahren.

Weitere Artikel