Amnesty Journal Tschad 05. März 2024

Von der Hütte in den Kreißsaal

Eine Krankenschwester hält ein Neugeborenes in den Händen, im Hintergrund die Mutter des Kindes in einem Krankenhausbett, an der Wand über dem Bett hängt die Nummer 20.

Geschafft: Nur wenige Frauen im Tschad bringen ihre Kinder mit medizinischer Unterstützung zur Welt (Bebedjia, Tschad).

Fast nirgendwo sonst sterben so viele Frauen bei der Geburt wie im Tschad. Im Kampf für eine bessere Gesundheitsversorgung spielen Hebammen eine zentrale Rolle.

Von Helena Kreiensiek

Etwa 15 schwangere Frauen würden gleich auf sie warten, wenn um 13 Uhr ihre Schicht im Krankenhaus beginne, vermutet Jeannine Koïbé. "Heute ist Markttag. Viele Frauen, die in die Stadt kommen, um einzukaufen, nutzen die Gelegenheit, um das mit einem Besuch im Krankenhaus zu verbinden. Dann müssen sie nicht zusätzlich Geld für den Transport ausgeben", erklärt die Hebamme. An normalen Tagen sei der Andrang oft deutlich geringer. Eine Patientin oder zwei, manchmal auch gar keine, würden dann für Schwangerschaftsuntersuchungen das Provinzkrankenhaus von Biltine aufsuchen. "Viele Frauen gebären ihre Kinder zu Hause, teils ohne medizinische Versorgung", sagt die 35-Jährige. Oft fehle es auch an Geld, um die Behandlungskosten zu bezahlen. Denn um die wirtschaftliche Situation ist es in dem zentralafrikanischen Staat nicht gut bestellt. 

Vom staatlichen Reichtum kommt wenig an

Obwohl der Tschad seit 2003 Öl fördert, kommt von dem Reichtum bei der Bevölkerung nur wenig an. Das Land gilt als eines der ärmsten weltweit. Rund 6,1 Millionen Menschen der etwa 16,4 Millionen Einwohner*innen sind der NGO Care Österreich zufolge auf humanitäre Hilfe angewiesen. Neben der prekären wirtschaftlichen Situation tragen klimatisch bedingte Veränderungen wie unvorhersehbare Regenfälle und Dürreperioden zu der anhaltenden Nahrungsmittelknappheit bei. Selbst in der Hauptstadt N’Djamena fehlt es an Krankenhäusern, sauberes Wasser und Elektrizität sind nicht überall verfügbar. 

Ich habe diesen Beruf ergriffen, um anderen Frauen helfen zu können, damit sie nicht das durchmachen müssen, was ich durchmachen musste.

Eugenie
Madjiguem
Hebamme
Eine Frau aus dem Tschad, sie trägt ein Kleid, Brille und Kopftuch.

Eugenie Madjiguem

Diese Umstände tragen dazu bei, dass junge Mädchen oft früh verheiratet werden, sagt die Hebamme Eugenie Madjiguem. Nach Angaben des Kinderhilfswerks UNICEF werden 67 Prozent der Mädchen vor Erreichen des 18. Lebensjahres verheiratet. Damit gehört der Tschad zu den Ländern mit den meisten Kinderehen weltweit. "Wir Frauen müssen mit vielen Herausforderungen umgehen", sagt die 35-Jährige. Als sie mit Anfang 20 ihr erstes Kind bekam, sei die Geburt sehr schwierig gewesen. "Ich lag drei Tage in den Wehen. Irgendwann haben mir die Hebammen gesagt, sie seien müde und ich solle nicht so kompliziert sein", erzählt Eugenie Madjiguem. "Als das Kind tatsächlich kam und ich nach Hilfe gerufen habe, kam niemand. Erst als meine Bettnachbarin geschrien hat, dass der Kopf schon draußen sei, wurde mir endlich geholfen." Weitere Kinder habe sie danach nicht mehr bekommen wollen. "Ich habe diesen Beruf ergriffen, um anderen Frauen helfen zu können, damit sie nicht das durchmachen müssen, was ich durchmachen musste." 

Armut und fehlende Infrastruktur

Der Tschad hat die zweithöchste Müttersterblichkeitsrate weltweit, er liegt nur knapp hinter Südsudan. Nach Angaben der Organisation Ärzte ohne Grenzen finden nur zwei von fünf Geburten im Beisein von ausgebildeten Hebammen statt. Mangelndes Fachwissen, fehlende Ausrüstung und Personal, aber auch lange Wege auf schlechten Straßen seien nur ­einige der Gründe hierfür, sagt auch die Krankenschwester Mariam. Ihren echten Namen möchte sie nicht veröffentlicht sehen. Sie möchte keine Probleme wegen ihrer Kritik am Gesundheitssystem bekommen. Dieses sei lückenhaft. Viele Frauen, insbesondere auf dem Land, seien daher darauf angewiesen, mit traditionellen Geburtshelferinnen, sogenannten Matrons, zu entbinden. "Früher gab es nur die Möglichkeit einer Hausgeburt, umgeben von den Frauen des Dorfes, die etwas Erfahrung hatten", erklärt sie. "Unsere Eltern sind so auf die Welt gekommen. Aber die Risiken sind hoch, vor allem, wenn es Komplikationen gibt." Oft gebe es in den entlegenen Gebieten des Landes bis heute nur diese ­Option. 

Eugenie Madjiguem kann das bestätigen. "Ich arbeite in einem kleinen Krankenhaus in Bol, in der Nähe des Tschadsees", erklärt sie. Eine Region im Grenz­gebiet zu Niger, Nigeria und Kamerun, die zudem noch von Konflikten und Klimawandel geprägt ist. Erst kürzlich sei eine Frau in ihre Klinik gekommen, die bereits mehrere Tage in den Wehen lag. "Es gab Komplikationen. Aber um zu unserem Krankenhaus zu gelangen, musste sie erst in einem Einbaum einen See überqueren und anschließend ein Auto finden, dass dann nochmal drei Stunden gebraucht hat, um zu uns gelangen." Sie hätten das Leben der Mutter retten können, doch das Kind nicht, erzählt Eugenie Madjiguem und hält kurz inne. "Solche Momente sind immer schwer zu ertragen." Gleichzeitig seien es genau solche Erlebnisse, die die 35-Jährige antreiben würden: "Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Frauen dafür zu sensibilisieren, dass prä- und postnatale Untersuchungen wichtig sind. Aber eine große Schwierigkeit ist die Armut, vor allem in ländlichen Gebieten." Für viele sei eine medizinische Versorgung schlicht zu teuer. 

Eine Frau aus dem Tschad im Porträt, die trägt traditionelle Kleidung und ein Kopftuch, sowie Ohrringe.

Die Hebamme Jeannine Koïbé

Viele Strecken werden zu Fuß bewältigt. Doch für eine schwangere Frau ist es extrem schwierig, 30 Kilometer zum nächsten Gesundheitszentrum zu Fuß zu gehen.

Jeannine
Koïbé
Hebamme

"Viele Strecken werden zu Fuß bewältigt. Doch für eine schwangere Frau ist es extrem schwierig, 30 Kilometer zum nächsten Gesundheitszentrum zu Fuß zu gehen", ergänzt die Hebamme Jeannine Koïbé. "Und wenn eine Frau dann bei der Hausgeburt stirbt, erfahren wir das oft nicht. Deshalb tauchen diese Fälle in den offiziellen Statistiken zur Müttersterblichkeit erst gar nicht auf", sagt Koïbé. "Allein in unserem Krankenhaus verlieren wir ein bis zwei Frauen im Monat", berichtet sie. Häufig sei der Grund, dass professionelle medizinische Hilfe zu spät aufgesucht werde. Trotz dieser bitteren Erlebnisse kann die Hebamme sich nicht vorstellen, in einem anderen Beruf zu arbeiten: "Ich habe fast vier ­Jahre lang unbezahlte Praktika gemacht, bevor ich eine Stelle gefunden habe", erzählt sie. Ein Zeichen für ihre starke Motivation, als Hebamme zu arbeiten, aber auch ein Symptom für die wirtschaftliche Situation des Landes. 

Vorletzter Platz des Entwicklungsindex

Ohne familiäre Beziehungen sei es schwer, eine Anstellung zu finden, sagt Krankenschwester Mariam. Aufgrund der begrenzten Beschäftigungsmöglichkeiten sei die Mehrheit der Bevölkerung im informellen Sektor tätig und hangle sich von Job zu Job. Im Entwicklungsindex der Vereinten Nationen belegt der Tschad Platz 190 von 191 Ländern. 

Gesundheitsversorgung anzubieten, ist unter diesen Bedingungen äußerst schwierig, doch Eugenie Madjiguem, Jeannine Koïbé und Krankenschwester Mariam eint der Wunsch, sich für die Frauen ihres Landes einzusetzen und ihre Lage zu verbessern. Jede auf ihre Art, Schritt für Schritt, wie Mariam sagt. "Wir lassen uns nicht aufhalten."

Helena Kreiensiek ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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