Amnesty Journal Palästinensische Autonomiegebiete 28. August 2019

Jeder Song ein Statement

In rotes Licht getauchte junge, tanzende Menschen.

Partyvolk im Club "Khuzama" in Ramallah im palästinensischen Westjordanland, September 2018.  

Mideast Tunes ist die größte Onlineplattform für unabhängige Musiker aus dem Nahen Osten und Nordafrika.

Von Daniel Bax mit Fotos von Adlan Mansri

Alles wird gut, auf Arabisch "Ala Khai", heißt der neueste Track des palästinensischen Rap-Duos Revolution Makers. Der Rhythmus rattert wie eine gut geölte Maschine, dazu gesellt sich eine eingängige Keyboard-Melodie, der Sound erinnert an den effektvollen Elektro-Folk der palästinensischen Club-Formation 47 Soul. "Lass unsere Seelen frei fliegen", singt der Gastsänger Mohammed Khaira dazu, hymnisch und etwas pathetisch, und mahnt, fast beschwörend, "alles wird gut werden, alles gut". Das Lied handelt von Unbeugsamkeit und Überlebenswillen, und dass man die Hoffnung auf ein normales Leben nicht aufgeben soll.

Der Track soll Mut machen angesichts der mehr als schwierigen Situation im Gazastreifen. Und er will die Außenwelt aufmerksam machen auf die anhaltende Misere in dem dicht besiedelten und militärisch abgeriegelten Küstenstreifen, in dem über die Hälfte der Bevölkerung jünger als 18 Jahre ist.

Die Revolution Makers, das sind die beiden Brüder Osama und Mohammed Elsusi. Vor etwa zehn Jahren haben sie angefangen, Musik zu machen, um zu zeigen, dass es im Gazastreifen noch etwas anderes gibt als Hamas und Hass auf die andauernde Belagerung. Über die Jahre haben sie knapp zwanzig Songs aufgenommen, viel ist das nicht, aber viel mehr lassen die Bedingungen im Gazastreifen kaum zu. Es gibt wenige Möglichkeiten zur Musikproduktion. Außerdem wollen sie sich nicht vereinnahmen lassen, weder von politischen Gruppen noch von kommerziellen Geldgebern.

Mann mit Mikrofon, dahinter tanzende Leute.

Im Sommer standen die Revolution Makers als "Featured ­Artists" auf der Leitseite von Mideast Tunes, der größten Onlineplattform für unabhängige Musiker aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Mideast Tunes wurde 2010 gegründet, um jungen Bands und Musikern wie ihnen den Zugang zu einer breiten Öffentlichkeit zu verschaffen. "Musik für sozialen Wandel", lautet der Slogan der Plattform.

Heute sind mehr als zweitausend Künstler und Bands auf Mideast Tunes vertreten, mit über 11.000 Songs und Tracks – aus dem Libanon und Ägypten, traditionell die kulturellen Zentren der Region, aber auch aus Marokko, dem Iran und aus Saudi-Arabien. Sogar "Kurdistan" wird als eigenständiges Land ­geführt, auch wenn es noch keinen gleichnamigen Staat gibt. Mideast Tunes ist seiner Zeit in jeder Hinsicht voraus.

Gegründet wurde die Plattform von der visionären Bloggerin und Menschenrechtsaktivistin Esra’a al-Shafei aus Bahrain. Die heute gerade mal 33-jährige Entrepreneurin hatte zuvor schon andere vergleichbare Projekte auf den Weg gebracht, um marginalisierten Gruppen im Nahen Osten und in Nordafrika eine Stimme zu geben, darunter die Non-Profit-Portale Mideast­Youth (majal.org) und crowdvoice.org.

Über al-Shafei als Person ist nicht viel bekannt. Aus Vorsicht zeigt sie selbst in TV-Interviews und in TED-Talks nie ihr Gesicht. Um Belästigungen oder gar Bedrohungen zu vermeiden, bleibt sie lieber anonym. Ihr Wikipedia-Eintrag und viele Artikel über sie sind mit einer Comiczeichnung illustriert. Dafür ist sie ziemlich aktiv. 2011 gründete sie ahwaa.org, eine zweisprachige Communityplattform für queere Teenager und junge Erwachsene. Mit migrant-rights.org setzt sie sich für die Rechte der Gastarbeiter ein, die in den reichen Golfstaaten ausgebeutet werden.

Für ihren Einsatz für Minderheiten und Menschenrechte hat al-Shafei mehrere Preise und Auszeichnungen erhalten, und sie wurde von unterschiedlichsten Medien zu den wichtigsten Frauen der Dekade gezählt. "Bei Mideast Tunes geht es nicht nur um Musik oder Talent", sagte sie in einem Interview. "Es geht um Menschen, die um ihre Identität ringen." Um sich auf mideasttunes.com präsentieren zu können, müssen sich Künstler und Bands registrieren. Über die Webseite und die App kann der Nutzer kostenlos ausgewählte Songs streamen. Auf der Seite kann man nach Ländern suchen oder nach Genres, nach Popularität oder nach aktuellen Neuheiten. Wer sich eine Playlist anlegt, dem macht Mideast Tunes dem Musikgeschmack entsprechend neue Vorschläge.

"Wir wollen nicht reich werden, wir wollen nicht Spotify sein. Wir wollen die unabhängige Kulturszene feiern, das ist ­alles", erklärte al-Shafei dem Magazin The National ihre Moti­vation. "Es gibt vor Ort eine fantastische lokale Undergroundszene, die nicht angemessen wahrgenommen wird."

Durch Mideast Tunes ändert sich das. Viele Künstler und Bands bekommen durch die Plattform mehr Aufmerksamkeit, sogar weltweit. Plötzlich freuen sich Metal-Bands in Kuwait, die im eigenen Land kaum jemand kennt, über Interviewanfragen von Radiosendern aus den Niederlanden oder Australien. Über Crowdfunding sammeln manche Musiker nun Geld, um in professionellen Studios aufnehmen zu können. Auch die marokkanische Sängerin Oum oder die kurdische Musikerin Aynur, deren Alben in Europa erscheinen, sind auf Mideast Tunes vertreten. In erster Linie ist die Plattform aber eine Fundgrube für bisher unerkannte Talente, die sich dort einem weltweiten Publikum präsentieren und auf sich aufmerksam machen können.

Ein Mann mit Mikrofon, davor tanz ein Mann, dahiner weitere junge Männer.

Zu den Künstlern, die im vergangenen Jahr auf Mideast Tunes am meisten gehört und gestreamt wurden, zählt die libanesische Band al-Rahel al-Kabir, auf Englisch: The Great Departed. 2013 gegründet, mischen sie klassische arabische Musik mit beißenden satirischen Texten. Ihr 40-jähriger Frontmann Khaled Soubeih war Journalist und berichtete über den Krieg in Syrien und seine Auswirkungen auf den Libanon, bevor er seine Band gründete. In "Madad Baghdadi", einer "Hymne an den Kalifen", machen sie sich über den Anführer des IS lustig. "Oh Meister Abu Bakr al-Baghdadi, der du nach Gottes Gesetzen herrscht", singen sie spöttisch: "Du wirst Gottes Diener in einen Abgrund führen wie keiner vor dir. Und weil der Islam barmherzig ist, werden wir schlachten und das Fleisch verteilen. Und weil wir den Straßenverkehr reduzieren müssen, werden wir menschliche Wesen in die Luft jagen." In der Live-Aufnahme aus einem Musikcafé in Beirut sieht man, dass das Publikum mit rhythmischem Händeklatschen und Gelächter reagiert, das Video machte auf Youtube die Runde. "Wir müssen die Freiheit nutzen, die wir hier haben", sagte Soubeih. "Das ist unsere Pflicht." Meinungsfreiheit wie im Libanon gibt es nicht überall in der Region. Im Mai 2018 gab die Band auf Facebook bekannt, dass die kommerzielle Musikplattform iTunes sich geweigert hatte, ihre Songs hochzuladen, weil sie sie als "unpassend für die arabische Welt" eingestuft hatte. Erst eine Kampagne von Netzaktivisten brachte das Unternehmen dazu, einzulenken.

Auch andere Künstler, die auf Mideast Tunes vertreten sind, ecken an. Der 25-jährige Sänger Bashar Murad aus Ost-Jerusalem etwa singt über die Liebe und das Leben, aber er ist offen schwul, und er stellt ziemlich unverhohlen gesellschaftliche Zwänge und traditionelle Geschlechterrollen in Frage. Jeder seiner Songs ist ein Statement, und in seinen Videos treten Männer in Brautkleidern und andere Nonkonformisten auf. Sein Song "Ana Zalameh" ("Ich bin ein Mann") handelt davon, wie Männlichkeit konstruiert wird. Und in der Ballade "Shillet Hamal" ("Ein Haufen Nichtsnutze") singt er davon, wie gesellschaftliche Erwartungen seine Altersgenossen dazu zwingen, ihre Jugend in respektablen, aber nutzlosen Bürojobs zu verschwenden. Das Video wurde im Westjordanland gedreht und zeigt Murad, wie er einem langweiligen Büro entflieht, und während er sich ein bunt gestreiftes Hemd überzieht, wechselt der Film von Schwarz-Weiß zu Farbe. So rauscht er im weiß-roten VW-Bus durch die Westbank, und feiert vor einem Flugzeugwrack ein rauschendes Fest, mit Pantomimetänzern aus Nablus, Jongleuren, Feuerschluckern, Harlekinen und Hippies – das Lied ist eine Hymne auf die Individualität und die Fantasie.

Paar inmitten einer tanzenden Menge

Ähnlich empfindsam zeigt sich der syrische Sänger und Songwriter Yousef Kekhia, der aus Aleppo über Istanbul nach Berlin geflohen ist. In Istanbul hatte er Architektur studiert, eine Krebserkrankung bewog ihn, nach Deutschland zu ziehen und sich ganz der Musik zu widmen. Seine Lieder handeln von menschlichen Schicksalen wie dem eines befreundeten Tänzers im Libanon, der sich das Leben nahm, oder von den Erfahrungen, die er selbst gemacht hat. In "Hal Ard Lamin" ("Wessen Land ist das?") hinterfragt er die Idee von Grenzen und Nationalstaaten, das Video dazu entstand mit befreundeten Tänzern in einem deutschen Wald. Kekhia singt auf Arabisch, seine Songs spielt er mit Gitarre, Keyboards und Mischpult in seiner Berliner Zweizimmerwohnung ein, sie changieren zwischen Folk und Kammerpop.

Beileibe nicht alle Künstler aus der Region, die auf Mideast Tunes vertreten sind, sind so politisch. Die Band Apo & the Apostle aus dem Westjordanland mit ihrer Frontfrau klingen mit ihrem fluffigen Gitarrenpop so entspannt, als gäbe es dort keine Checkpoints und keine Grenzen. Und der jordanische Sänger Atef Malhas klingt mit seinem Folkpop so cool wie ein Surfer vom Strand. Auf der Plattform finden auch iranische Ambient-DJs, tunesischer Elektrofunk, jordanischer Folkpop und libanesischer Rap einen Platz. Aber auch wenn sie eindeutige Botschaften meiden: Allein dadurch, dass sie sich nicht durch die Umstände in der Region einengen und definieren lassen, sind sie politisch.

Palestine Underground

Der französisch-algerische Fotograf Adlan Mansri hat von ­Februar bis September 2018 die Partyszene an verschiedenen Orten in Palästina ­begleitet. Die ­Bilder dokumentieren eine Jugend­bewegung, die sich mit Raves und Partys ­gegen Mauern und gesellschaft­liche Zwänge wehrt. Mansri lebt in ­Berlin und Marseille.

www.adlanmansri.com

Ein Hund und ein Mann auf einem Dach in der Abenddämmerung.

Der Musiker Bashar Murad aus Ost-Jerusalem, September 2018.

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