Aktuell Serbien 17. September 2015

Flüchtlinge in Ungarn

Serbien/Ungarn: Flüchtlinge sitzen im "Niemandsland" fest

Ein Kind steht bei einer provisorischen Notunterkunft für Flüchtlinge an der serbisch-ungarischen Grenze bei der Stadt Horgos

16. September 2015 - Mehr als 1.000 Menschen, unter ihnen viele Familien, die vor den Konflikten in Syrien, Afghanistan und Irak fliehen, sitzen weiterhin unter furchtbaren und sich rapide verschlechternden Bedingungen auf und am Straßenrand einer gesperrten serbischen Autobahn fest. Zuvor hatten die ungarischen Behörden am Dienstag den Grenzübergang geschlossen.

Humanitäre Hilfsorganisationen, darunter der UNHCR, waren bisher praktisch nicht anwesend. Die einzige Reaktion der serbischen Behörden bestand darin, eine Handvoll Angehöriger der Polizei in das Grenzgebiet zu schicken. Hunderte Flüchtlinge müssen im Freien auf einer gesperrten Autobahn übernachten. Soforthilfe erhalten sie nur von Freiwilligen. Der Zugang zu Nahrungsmitteln, fließendem Wasser und Sanitäranlagen ist stark eingeschränkt.

"Die Flüchtlinge, mit denen wir gesprochen haben, haben die Unsicherheit und Empörung beschrieben, die sie fühlen. Sie stecken in einem Schwebezustand fest und es fehlt ihnen an jeglichen Informationen. Sie sind praktisch gefangen im Niemandsland an der serbisch-ungarischen Grenze", berichtet Tirana Hassan aus Horgoš, Verantwortliche für Crisis Response bei Amnesty International.

Am 16. September seien noch mehr Flüchtlinge in das Land geströmt, während sich die Lage weiter rapide verschlechterte, so Tirana Hassan. "Die serbischen Behörden und die Europäische Union wussten, dass das passieren würde und haben es trotzdem nicht geschafft, angemessen zu reagieren. Deswegen sitzen jetzt Hunderte der schutzlosesten Menschen zwischen Stacheldrahtzaun fest und wissen nicht, was als nächstes passieren wird."

Vertreterinnen und Vertreter von Amnesty International sprachen mit einer Frau aus Afghanistan, die zwei junge Kinder hat. Ihr acht Jahre alter Sohn leidet an Krebs. Seitdem die ungarische Grenze geschlossen ist, schlafen sie im Freien. Die Familie hat nur wenige Habseligkeit, die kleine Tochter hat nicht einmal Schuhe. Der wertvollste Besitz der Familie ist die Krankenakte des Sohnes.

Da es sich bei dem Gebiet in der Nähe des Grenzübergangs entlang einer Autobahn um freie Natur handelt, gibt es weder Zufluchtsmöglichkeiten noch Nahrungsmittel. Zudem ist der Zugang zu Toiletten und fließendem Wasser stark eingeschränkt. Die Flüchtlinge tun alles, um die Situation unter Kontrolle zu halten, doch die Bedingungen sind extrem schlecht – auf einem provisorischen Schild werden die Menschen in englischer und arabischer Sprache dazu aufgefordert "die Umgebung nicht mit" ihren "Exkrementen zu verschmutzen".

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Einige Flüchtlinge haben Zelte und können diese zum Schlafen nutzen, Hunderte müssen jedoch im Freien auf der Autobahn oder am Straßenrand übernachten. Amnesty International sprach mit einer zehnköpfigen Familie aus Syrien, die über lediglich ein Zelt verfügt, in dem nur die Kinder schlafen können. Andere Familien haben nichts und sind der Witterung ausgesetzt. Manche von ihnen suchen Schutz in den nahegelegenen Wäldern.

Die humanitäre Hilfe war bisher improvisiert, ohne koordinierte Anstrengungen der serbischen Regierung. Freiwillige verteilen Milch und Basisartikel, doch hinsichtlich der humanitären Bedürfnisse ist dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Menschen haben keinen Zugang zur Grundversorgung und können nicht einmal ihre Familien ernähren, was eine weitere Verletzung ihrer Würde darstellt.

Die Ermittlerinnen und Ermittler von Amnesty International haben zahlreiche extrem schutzlose Menschen gesehen, unter ihnen auch viele mit Behinderungen, die über keinerlei spezialisierte Hilfe verfügen. Amnesty International traf eine 16-jährige junge Frau aus Kobane in Syrien, die im Rollstuhl sitzt und erzählte, dass ihre Schwester und sie aufgrund fehlender Dokumente nicht in ein lokales Hotel einchecken konnten. Sie mussten die Nacht in dem provisorischen Lager verbringen, in dem eine Familie sie schließlich in ihr überfülltes Zelt aufnahm.

Die Menschen, die an der serbisch-ungarischen Grenze festsitzen, verfügen offenbar über keinerlei Informationen, wie es weitergehen wird.

Sie haben Amnesty International immer wieder erzählt, dass sie langfristig nicht an Almosen interessiert sind, sondern arbeiten, unter menschenwürdigen Bedingungen leben und als Mitglieder der Gesellschaft einen Beitrag zu dieser leisten möchten. Viele gaben gegenüber Amnesty an, dass sie nicht in dieser Situation sein wollen – vielmehr würden sie dazu gezwungen.

"Wir sehen entlang der Grenze, wie Hunderte Männer, Frauen und Kinder an den verheerenden Folgen der schrecklichen fehlenden Menschlichkeit der ungarischen Behörden leiden, die sich in der Schließung und Militarisierung der Grenze […] widerspiegelt", so Tirana Hassan.

"Die serbischen Behörden waren in voller Kenntnis darüber, wie sich die Situation entwickeln würde und haben doch kläglich versagt. Tausende Menschen fliehen vor Krieg und suchen Schutz in EU-Ländern. Statt ihnen zu helfen, sperren die europäischen Regierungen sie durch Zäune aus und scheinen nicht in der Lage, langfristigere Lösungen zu finden."

Amnesty International ist derzeit mit einem Ermittlungsteam vor Ort an der serbisch-ungarischen Grenze, unter ihnen Tirana Hassan, Verantwortliche für Crisis Response (twittert von ihrem Account @TiranaHassan) und Todor Gardos, Campaigner für die Balkanregion (twittert von seinem Account @tgardos).

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