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Tunesien: Journalist vor Militärgericht
Der tunesische Journalist Salah Attia
© privat
Am 11. Juni 2022 nahmen zwei Polizeikräfte in Zivil den Journalisten Salah Attia fest. Seine Festnahme beruht auf einer Erklärung, die er am Vortag im Fernsehsender Al Jazeera abgegeben hatte. Darin erwähnte er, dass die Armee sich geweigert habe, der Anordnung des Präsidenten Folge zu leisten, den Hauptsitz des Gewerkschaftsdachverbands Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT) zu schließen. Aktuell ist Salah Attia bis zu weiteren Ermittlungen im Gefängnis Mornaguia in Tunis inhaftiert. Er ist der zweite Journalist und mindestens die zwölfte Zivilperson, die seit der Machtergreifung von Präsident Kais Saied von einem Militärgericht strafverfolgt wird. Amnesty International fordert seine sofortige Freilassung. Außerdem müssen die Behörden den Einsatz von Militärgerichten auf die strafrechtliche Verfolgung von Militärangehörigen und Verstöße gegen die Militärdisziplin beschränken.
Appell an
Präsident der Republik Tunesien
Kais Saied
Route de la Goulette
Site archéologique de Carthage
TUNESIEN
Sende eine Kopie an
Botschaft der Tunesischen Republik
Herrn Chiheb Chaoch, Geschäftsträger a.i.
Lindenallee 16
14050 Berlin
Fax: 030-3082 06 83
E-Mail: at.berlin@tunesien.tn
Amnesty fordert:
- Bitte sorgen Sie dafür, dass Salah Attia unverzüglich freigelassen wird und dass alle Anklagen, die allein auf der Wahrnehmung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung beruhen, fallengelassen werden.
- Außerdem fordere ich die tunesischen Behörden auf, die strafrechtliche Verfolgung von Zivilpersonen vor Militärgerichten zu beenden.
Sachlage
Am Abend des 10. Juni 2022 wurde Salah Attia im Fernsehsender Al Jazeera zugeschaltet, wo er gelegentlich als politischer Analyst zu Tunesien zu sehen ist. In seinen Kommentaren gab er an, dass Präsident Saied die Armee aufgefordert habe, die Schließung des Hauptsitzes des tunesischen Gewerkschaftsdachverbands UGTT zu erzwingen, die Armee sich jedoch geweigert und anschließend den UGTT über die Anordnung informiert habe. Außerdem habe sich die Armee laut Salah Attia auch geweigert, eine Reihe politischer Führungskräfte unter Hausarrest zu stellen, wie ebenfalls von Präsident Saied gefordert. Namen wurden von Salah Attia jedoch nicht genannt.
Am 11. Juni veröffentlichte der UGTT eine Pressemitteilung, in der er die Behauptungen des Journalisten dementierte. Salah Attia steht unter Anklage wegen "Aufwiegelung zum bewaffneten Kampf und Verursachung von Unruhen, Mord und Plünderungen auf tunesischem Hoheitsgebiet, Beschuldigung von Staatsbediensteten ohne Beweise für illegale Handlungen, Verunglimpfung der Armee sowie "vorsätzlicher Schädigung anderer oder Ruhestörung über Telekommunikationsnetze". Grundlage hierfür sind jeweils Paragraf 72 des Strafgesetzbuches, der die Todesstrafe vorsieht, Paragraf 128 des Strafgesetzbuches, Paragraf 91 des Militärstrafgesetzbuchs und Paragraf 86 des Telekommunikationsgesetzes. Nach Angaben seines Anwalts Samir Dilou soll Salah Attia am 7. Juli vor einem*r Untersuchungsrichter*in des Militärgerichts erscheinen.
Die strafrechtliche Verfolgung von Salah Attia durch ein Militärgericht verstößt gegen Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, dessen Vertragsstaat Tunesien ist. Artikel 14 garantiert das Recht auf einen "fairen und öffentlichen Gerichtsprozess durch ein zuständiges, unabhängiges, unparteiisches und auf gesetzlicher Grundlage eingerichtetes Gericht". Zudem wird durch seine strafrechtliche Verfolgung auch sein Recht auf freie Meinungsäußerung untergraben, da sie auf seinen Äußerungen auf Al Jazeera beruht, die nach internationalem Recht geschützt sind.
Hintergrundinformation
Salah Attia ist Journalist sowie Gründer und Herausgeber der arabischen Nachrichtenwebsite Al Ray Al Jadid (die neue Meinung). Die Website veröffentlicht Nachrichten aus Tunesien und der Welt. Gelegentlich wird Salah Attia auch von anderen Nachrichtenorganen als politischer Analyst zu Tunesien interviewt.
Am Abend des 11. Juni suchten Polizeikräfte in Zivil das Haus von Salah Attia in Hay Ettahrir in Tunis auf, wo sie seine Frau und zwei seiner drei Kinder vorfanden. Die Polizei wollte das Haus durchsuchen, ohne einen Durchsuchungsbeschluss vorzuweisen. Dies habe die Frau von Salah Attia jedoch verweigert, wie Sondes Attia, seine Tochter, berichtete. Sie selbst war nicht zugegen, gab jedoch an Amnesty International weiter, was ihre Familie ihr erzählt hatte. Die Polizei wollte am Telefon mit Salah Attia sprechen, der ihnen sagte, dass er sich in einem Café im Viertel Ibn Khaldun befände. Die Polizei suchte das Café auf und nahm Salah Attia fest.
Die Polizeiangehörigen eskortierten Salah Attia nach Hause, wo er sich umzog, und brachten ihn zum Verhör in die Militäreinrichtung El Aouina. Dort wurde er nach der Quelle seiner Behauptungen über die Armee befragt sowie nach seinen Beweggründen, die Geschichte öffentlich zu machen.
Nach seinem Verhör am 11. Juni brachte die Polizei Salah Attia nach Bouchoucha, einer Hafteinrichtung in Tunis, wo er bis zu seinem Erscheinen vor einem Militärgericht am 13. Juni bleiben sollte. Wie Samir Dilou, einer der Rechtsbeistände von Salah Attia, Amnesty International mitteilte, wurde sein Verfahren vom Militärgericht erster Instanz in Tunis eröffnet.
Am 13. Juni brachte die Polizei Salah Attia zu einer Anhörung vor einem*r Ermittlungsrichter*in am Militärgericht erster Instanz in Tunis. Einer seiner Rechtsbeistände, Malek Ben Amor, der bei der Anhörung zugegen war, berichtete Amnesty International, dass das Verfahren allein auf den Äußerungen von Salah Attia auf Al Jazeera beruhe. Der*Die Ermittlungsrichter*in forderte Salah Attia auf, seine Quelle zu nennen, was dieser jedoch laut seinem Anwalt ablehnte.
Amnesty International hat seit der Machtergreifung von Präsident Saied am 25. Juli 2021 ein systematisches Vorgehen der Militärgerichte gegen Zivilpersonen dokumentiert, u. a. gegen Journalist*innen, Parlamentarier*innen, Rechtsbeistände und Blogger*innen.
Die tunesischen Militärgerichte erfüllen die Anforderung der Unabhängigkeit nicht, da der Präsident das letzte Wort bei der Ernennung von Richter*innen und Staatsanwält*innen an Militärgerichten hat. Darüber hinaus gehören sowohl der Generalstaatsanwalt als auch alle anderen Staatsanwält*innen an Militärgerichten der Armee an und unterliegen damit militärischen Disziplinarverfahren. Somit stehen sie unter dem Einfluss der Exekutive, da der Präsident gemäß der tunesischen Verfassung auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist.
Gemäß dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, zu dessen Vertragsstaaten Tunesien gehört, hat jede Person das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dies schließt auch die Freiheit ein, "über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten". Laut dem UN-Sonderberichterstatter zur Meinungsfreiheit sind Freiheitsstrafen wegen Verleumdung nicht zu rechtfertigen: "Alle Gesetze, die strafrechtliche Sanktionen für Verleumdung vorsehen, sollten abgeschafft und gegebenenfalls durch geeignete zivilrechtliche Verleumdungsgesetze ersetzt werden." Der UN-Menschenrechtsausschuss, das Vertragsorgan, das für die Auslegung der staatlichen Pflichten im Rahmen des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte maßgeblich ist, vertritt die Auffassung, dass staatliche Stellen nicht das Recht haben, Informationen von legitimem öffentlichem Interesse, die die nationale Sicherheit nicht beeinträchtigen, zu unterdrücken oder der Öffentlichkeit vorzuenthalten oder Journalist*innen, Forscher*innen, Umweltaktivist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen oder andere wegen der Verbreitung solcher Informationen strafrechtlich zu verfolgen.
Darüber hinaus erklärte der UN-Sonderberichterstatter über die Förderung und den Schutz der Meinungsfreiheit und des Rechts der freien Meinungsäußerung in seinem Bericht vom 20. April 2010 Folgendes:
"Strafrechtliche Verleumdungsgesetze dürfen nicht dazu verwendet werden, abstrakte oder subjektive Begriffe oder Konzepte wie den Staat, nationale Symbole, die nationale Identität, Kulturen, Denkschulen, Religionen, Ideologien oder politische Doktrinen zu schützen."