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Tunesien: Anwältin in willkürlicher Haft
Die tunesische Rechtsanwältin Sonia Dahmani (undatiertes Bild).
© privat
+++ Update: In einer Anhörung am 20. Mai entschied der Ermittlungsrichter, dass Sonia Dahmani weiter in Haft bleiben muss. In einem anderen Verfahren könnte Anklage gegen sie erhoben werden, weil sie die unhygienischen Bedingungen in tunesischen Gefängnissen kritisiert hat. +++ Am 11. Mai 2024 stürmten Sicherheitskräfte maskiert und in Zivilkleidung die Büros der Anwaltskammer in Tunis, um die Anwältin Sonia Dahmani festzunehmen. Am 13. Mai ordnete ein Ermittlungsrichter des Gerichts erster Instanz in Tunis an, sie wegen kritischer Äußerungen in einer Fernsehsendung in Untersuchungshaft zu nehmen. Ihr wird die Verbreitung falscher Informationen gemäß Paragraf 24 des drakonischen Gesetzesdekrets 54 über Cyberkriminalität vorgeworfen, das eine fünfjährige Haftstrafe und eine Geldstrafe von 50.000 Tunesischen Dinar (ca. 14.800 Euro) vorsieht. Sonia Dahmani wird derzeit willkürlich im Manouba-Gefängnis in Tunis festgehalten.
Appell an
Präsident
Kais Saied
Président
Route de la Goulette
Site archéologique de Carthage
TUNESIEN
Sende eine Kopie an
Botschaft der Tunesischen Republik
S. E. Herrn Wacef Chiha
Lindenallee 16
14050 Berlin
Fax: 030-3082 06 83
E-Mail: at.berlin@tunesien.tn
Amnesty fordert:
- Ich bitte Sie sicherzustellen, dass Sonia Dahmani umgehend und bedingungslos freigelassen und das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen sie eingestellt wird.
- Darüber hinaus fordere ich Sie und Ihre Regierung auf, die gezielten Festnahmen von Kritiker*innen wegen der friedlichen Ausübung ihrer Menschenrechte, einschließlich der Rechte auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit, einzustellen.
Sachlage
Die tunesische Anwältin Sonia Dahmani wurde am 11. Mai 2024 willkürlich festgenommen und inhaftiert. Ihre Festnahme verstößt gegen internationale Menschenrechtsnormen, einschließlich Artikel 6 und 9 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker sowie Artikel 9 und 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, zu derem Vertragsstaaten Tunesien gehört.
Am 7. Mai 2024 äußerte sich Sonia Dahmani in einer Fernsehsendung kritisch über die Migrationssituation in Tunesien. Sie sagte: "Von welchem außergewöhnlichen Land sprechen wir? Das, welches die Hälfte der jungen Leute verlassen will?" Am 9. Mai gab sie bekannt, dass sie von einem Ermittlungsrichter vorgeladen worden sei. Gegen sie wird nach Paragraf 24 des Gesetzesdekrets 54 ermittelt, das fünf Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 50.000 Tunesischen Dinar (ca. 14.800 Euro) vorsieht, wenn Telekommunikationsnetze genutzt werden, um "gefälschte Nachrichten", "falsche Daten", "Gerüchte" oder "gefälschte, verfälschte oder falsch zugeschriebene Dokumente" zu produzieren, zu versenden oder zu verbreiten, um anderen zu schaden, sie zu diffamieren oder zur Gewalt gegen andere aufzurufen oder um die öffentliche Sicherheit oder die nationale Verteidigung zu untergraben, Angst zu verbreiten oder Hass zu schüren. Die Strafen werden verdoppelt, wenn das Opfer Staatsbedienstete*r ist.
Am 10. Mai weigerte sich Sonia Dahmani, ihrer Anhörung vor dem Untersuchungsrichter beizuwohnen, da sie nicht über den Grund ihrer Vorladung informiert worden war, und beantragte eine Vertagung. Der Ermittlungsrichter lehnte dies ab und erließ einen Haftbefehl gegen sie. Am 11. Mai führten Sicherheitskräfte eine Razzia in den Büros der tunesischen Anwaltskammer durch und nahmen Sonia Dahmani gewaltsam fest.
Hintergrundinformation
Sonia Dahmani ist eine tunesische Anwältin und bekannte Medienpersönlichkeit, die häufig in Radio- und Fernsehsendungen wie "Emission Impossible" auf IFM Radio und "Denya Zida" auf Carthage+ auftritt. Gegen Sonia Dahmani wird außerdem in zwei weiteren Fällen wegen Kritik an den Behörden in öffentlichen Äußerungen ermittelt. Im November 2023 wurde sie von einem Ermittlungsrichter vorgeladen, nachdem die Generaldirektion für Gefängnisse eine Beschwerde gemäß Paragraf 24 des Gesetzesdekrets 54 eingereicht hatte, nachdem sie sich in einer Radiosendung kritisch über die Haftbedingungen in den Gefängnissen geäußert hatte. In einem anderen Fall wurde sie im Januar 2024 von einem Ermittlungsrichter vorgeladen, nachdem Justizministerin Laila Jaffel eine Beschwerde eingereicht hatte.
Nach der Festnahme von Sonia Dahmani am 11. Mai wurden auch zwei Journalist*innen festgenommen, die in derselben Radiosendung wie sie auftraten. Gegen sie wird ebenfalls wegen öffentlicher kritischer Äußerungen gegen die Behörden ermittelt, und ein Ermittlungsrichter ordnete ihre Untersuchungshaft an. Am 13. Mai wurden die Rechtsberater*innen von zwei privaten Radiosendern und einem Fernsehsender, nämlich IFM, Diwan FM und Carthage+, von den Justizbehörden vorgeladen und nach Angaben ihrer Rechtsbeistände über die Arbeit ihrer Journalist*innen und andere allgemeine Themen befragt.
Nach der Festnahme von Sonia Dahmani kündigte der Nationale Anwaltsvereinigung (Ordre National des Avocats de Tunisie) für den 13. Mai einen Streik an, um gegen die willkürliche Inhaftierung ihrer Kollegin zu protestieren. Die französischen Behörden und die Europäische Union haben bereits ihre Besorgnis über die jüngste Festnahmewelle geäußert, die sich gegen Mitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen und Journalist*innen, darunter Sonia Dahmani, richtet.
Seit der Verkündung des Gesetzesdekrets Nr. 54 am 13. September 2022 gehen die Behörden verstärkt gegen Personen vor, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen, und machen dabei häufig von dem neuen drakonischen Gesetz über Cyberkriminalität Gebrauch. Mindestens 22 Personen, darunter Rechtsanwält*innen, Journalist*innen, Blogger*innen und politische Aktivist*innen, wurden im Zusammenhang mit öffentlichen Äußerungen, die als Kritik an den Behörden eingestuft wurden, zum Verhör vorgeladen, strafrechtlich verfolgt oder verurteilt, darunter mindestens 13 auf der Grundlage des Gesetzes über Cyberkriminalität und in den meisten Fällen nach Beschwerden der Regierung.
Das Gesetzesdekrets Nr. 54 widerspricht internationalen Menschenrechtsverträgen, darunter der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker und dem Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, deren Vertragsstaat Tunesien ist. Sowohl Artikel 9 der Charta als auch Artikel 19 des Pakts garantieren das Recht auf freie Meinungsäußerung. Rechtseinschränkungen, die auf zweideutigen, zu weit gefassten Begriffen wie "Fake News" und anderen repressiven Bestimmungen des Gesetzes über Cyberkriminalität beruhen, genügen nicht den Anforderungen der Rechtmäßigkeit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit.
Seit seiner Machtergreifung am 25. Juli 2021 beansprucht Präsident Saied Notstandsbefugnisse, die ihm seiner Meinung nach durch die tunesische Verfassung von 2014 zugestanden werden. Seit Februar 2023 hat sich die Menschenrechtslage in Tunesien rapide verschlechtert, da mehrere Oppositionelle, Dissident*innen, vermeintliche Gegener*innen des Präsidenten und Regierungskritiker*innen ins Visier genommen und drangsaliert wurden. Das harte Vorgehen gegen Oppositionelle und Kritiker*innen ist ein Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte in Tunesien, einschließlich der Rechte auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit. Diese Rechte sind durch die Artikel 19, 21 und 22 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie durch die Artikel 9, 10 und 11 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker geschützt.