Iran: kurdischer Dissident verschwunden

Der iranisch-kurdische Dissident Edris Feqhi
© privat
Im Juli 2021 fiel der iranisch-kurdische Dissident Edris Feqhi dem Verschwindenlassen zum Opfer. Er war bei einem Hinterhalt der iranischen Revolutionsgarden gegen Mitglieder der Partei für ein freies Leben in Kurdistan angegriffen worden. Die Behörden machten vor seiner Familie immer wieder widersprüchliche Angaben zu seinem Verbleib. Er ist in großer Gefahr gefoltert oder in anderer Weise misshandelt zu werden.
Appell an
Leiter der Justizbehörden
Gholamhossein Mohseni Ejei
Head of the Judiciary
c/o Embassy of Iran to the European Union
Avenue Franklin Roosevelt No. 15
1050 Brüssel
BELGIEN
Sende eine Kopie an
Botschaft der Islamischen Republik Iran
S. E. Herrn Mahmoud Farazandeh
Podbielskiallee 67
14195 Berlin
Fax: (030) 83 222 91 33
E-Mail: info@iranbotschaft.de
Amnesty fordert:
- Ich fordere Sie auf, Schicksal und Verbleib von Edris Feqhi unverzüglich bekannt zu geben und ihn freizulassen, wenn er sich in staatlichem Gewahrsam befinden sollte, es sei denn, es liegen ausreichende, nicht durch Folter oder andere Misshandlungen erlangte Beweise vor, um ihn einer als Straftat anerkannten Handlung anzuklagen. Respektieren Sie auch seine Rechte auf ein faires Verfahren, in dem kein Todesurteil verhängt wird.
- Sorgen Sie in der Zwischenzeit bitte dafür, dass er vor Folter oder anderweitiger Misshandlung geschützt ist und regelmäßigen Zugang zu seiner Familie, einem Rechtsbeistand seiner Wahl und angemessener medizinischer Versorgung erhält.
- Des Weiteren fordere ich Sie auf, eine gründliche, unabhängige und unparteiische Untersuchung der Umstände seines Verschwindens und der Folter- und Misshandlungsvorwürfe anzuordnen, um die Personen, die im begründeten Verdacht stehen, hierfür strafrechtlich verantwortlich zu sein, in fairen Verfahren ohne Anwendung der Todesstrafe vor Gericht zu stellen.
Sachlage
Edris Feqhi, ein 36-jähriger Dissident, der zur kurdischen Minderheit des Iran gehört, fiel im Juli 2021 in der Provinz West-Aserbaidschan dem Verschwindenlassen durch Vertreter*innen der Strafverfolgungsbehörden und Angehörige von Sicherheits- und Geheimdienst zum Opfer. Am 27. Juli 2021 kündigten die Revolutionsgarden einen bewaffneten Hinterhalt gegen Mitglieder der Partei für ein freies Leben in Kurdistan (Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê – PJAK) in Boukan in der Provinz West-Aserbaidschan an. Wie sich später herausstellte, gehörte Edris Feqhi zu den Männern, auf die geschossen wurde. Nach Berichten der staatlichen Medien war seine Familie zunächst davon ausgegangen, dass er getötet wurde. Im August 2021 teilten Augenzeug*innen der Familie jedoch mit, dass er verletzt und festgenommen wurde, kurz nachdem er vom Schauplatz des Hinterhalts im Dorf Elm Abad geflohen war. Im September bzw. November 2021 teilten zwei ehemalige Häftlinge dem Menschenrechtsnetzwerk Kurdistan (Kurdistan Human Rights Network – KHRN) mit, ihn in einem Haftzentrum der Revolutionsgarden in der Almahdi-Kaserne in Urmia in der Provinz West-Aserbaidschan lebend gesehen zu haben. Ihren Angaben zufolge befand er sich aufgrund von Folter und fehlender medizinischer Versorgung in einem schlechten Gesundheitszustand.
Nach intensiven Bemühungen der Familie von Edris Feqhi bestätigte ein Beamter der Staatsanwaltschaft in Urmia am 29. September 2021 mündlich seine Inhaftierung, weigerte sich jedoch, seinen Aufenthaltsort bekannt zu geben, und sagte, er werde seine Familie anrufen, sobald die Ermittlungen abgeschlossen seien. Im November 2021 wurden diese Informationen jedoch von einem Beamten der Abteilung 6 der Staatsanwaltschaft in Urmia dementiert. Im Laufe des vergangenen Jahres haben Beamt*innen der Almahdi-Kaserne der Familie auf die meisten Anfragen mitgeteilt, keine Auskünfte geben zu können. Zuweilen rieten sie ihr jedoch auch, beim Geheimdienst der Revolutionsgarden eine schriftliche Genehmigung für einen Familienbesuch einzuholen, was darauf schließen lässt, dass sich Edris Feqhi in deren Gewahrsam befindet. Im Büro für Öffentlichkeitsarbeit des Nachrichtendienstes der Revolutionsgarden in Urmia haben Beamt*innen verschiedene Male erklärt, Edris Feqhi werde seine Familie "nach Abschluss der administrativen Verfahren" anrufen. Bei anderen Gelegenheiten wiederum sagten sie, er sei tot, machten widersprüchliche Angaben zu den Umständen seines angeblichen Todes und seiner Beerdigung oder behaupteten, dass bald eine Sterbeurkunde ausgestellt werden würde. Ende Juli 2022 lud das Geheimdienstministerium die Mutter von Edris Feqhi vor, nachdem sie ein Video ins Internet gestellt hatte, in dem sie Menschenrechtsgruppen um Unterstützung bat. Angehörige des Geheimdienstministeriums gaben zunächst an, Edris Feqhi sei gestorben, um dann anzudeuten, dass gegen ihn ein Strafverfahren laufe und die Familie einen Rechtsbeistand beauftragen solle. Im gleichen Monat teilte ein Angehöriger des Geheimdienstes einer vom KHRN befragten Quelle informell mit, dass Edris Feqhi in eine Hafteinrichtung des Geheimdienstes in Urmia verlegt worden sei.
Hintergrundinformation
Am 27. Juli 2021 gaben die Revolutionsgarden des Iran in einer öffentlichen Erklärung in den staatlichen Medien bekannt, eine "terroristische Gruppe" in der Region von Boukan "identifiziert und vernichtet" zu haben, die "aus drei Personen bestand und die Mission hatte, zerstörende und die Sicherheit gefährdende Aktionen durchzuführen". Weiter hieß es, dass zwei Angehörige der Gruppe getötet und ein weiterer verletzt worden seien. Am 6. August 2021 gab die kurdische Partei Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê (PJAK) eine Erklärung ab, nach der es sich bei den beiden getöteten Männern um Edris Feqhi und Mohsen Ghaderi handelte. Die Familie von Edris Feqhi hielt daraufhin ein Begräbnisfeier für ihn ab, ohne dass ihr der Leichnam übergeben worden war. Wie ein von Amnesty International befragter Zeuge angab, erschienen Beamt*innen des Geheimdienstministeriums bei der Bestattung, befragten mehrere trauernde Angehörige und nahmen einige von ihnen mehrere Tage in Gewahrsam. Im August 2021 reiste die Familie von Edris Feqhi von ihrem Wohnort Sanandaj in der Provinz Kurdistan in das Dorf Elm Abad und andere in der Nähe gelegene Dörfer in der Provinz West-Aserbaidschan, um mehr Informationen zu den Umständen der vermeintlichen Tötung von Edris Feqhi und Mohsen Ghaderim zu erhalten. Auf der Suche nach dem Leichnam von Edris Feqhi wandten sie sich auch an mehrere Regierungsbehörden und Militärstützpunkte in dem Gebiet. Dabei erfuhr die Familienmitglieder von mehreren Augenzeug*innen, dass Mohsen Ghaderi die Schießerei überlebt hatte und aus dem Iran geflohen war und dass Edris Feqhi festgenommen, in das Arefian-Krankenhaus in Urmia in der Provinz West-Aserbaidschan gebracht und dann an einen unbekannten Ort verlegt wurde. Im Arefian-Krankenhaus ließ medizinisches Personal die Familie wissen, es habe keine Befugnis zur Herausgabe von Informationen.
Die Familie intensivierte ihre Suche, nachdem das Menschenrechtsnetzwerk KHRN im September 2021 berichtet hatte, ein ehemaliger Gefangener habe Edris Feqhi in einer Hafteinrichtung der Revolutionsgarden in der Almahdi-Kaserne in Urmia gesehen. So suchte sie auch mehrmals die Almahdi-Kaserne auf, um Informationen zu erhalten. Sie wurde aber von Angehörigen der Revolutionsgarden darüber informiert, dass Edris Feqhi nicht in der Kaserne festgehalten wird, oder erhielt den Rat, eine schriftliche Genehmigung für einen Besuch beim Büro für Öffentlichkeitsarbeit des Nachrichtendienstes der Revolutionsgarden mit der Nummer 114 oder der Abteilung 6 der Staatsanwaltschaft in Urmia einzuholen. Im November 2021 gelang es der Familie, ein Treffen mit dem führenden Ermittlungsbeamten (bazpors) der Abteilung 6 der Staatsanwaltschaft zu arrangieren. Dieser dementierte die im September 2021 gegebene Bestätigung der Inhaftierung von Edris Feqhi und sagte, der Staatsanwaltschaft lägen keine Informationen über ihn vor.
Am 21. Februar 2022 versammelten sich die Angehörigen von Edris Feqhi friedlich vor dem Büro für Öffentlichkeitsarbeit des Nachrichtendienstes der Revolutionsgarden mit der Nummer 114. Im Laufe des Tages erhielten sie von den Revolutionsgarden zahlreiche widersprüchliche Angaben zu Schicksal und Verbleib von Edris Feqhi. Diese notierten zunächst die Telefonnummer der Familie und sagten, sie würden in einer Stunde anrufen. Dann versprachen sie, der Familie eine Sterbeurkunde auszustellen. Nach mehreren Stunden hieß es, die Ausstellung einer Sterbeurkunde sei nicht möglich, aber sie könnten der Familie ein Bild des Leichnams von Edris Feqhi zeigen. Sie fügten hinzu, dass die Revolutionsgarden Edris Feqhi erschossen und an einem nicht näher bezeichneten Ort begraben hätten, den sie als "la'nat abad" bezeichneten (ein abwertender Begriff, der auf Persisch "Platz der Verdammten" bedeutet und von den Behörden seit 1979 für abgelegene Grabstätten verwendet wird, in denen Opfer politisch motivierter Hinrichtungen in nicht gekennzeichneten Einzel- oder Massengräbern bestattet werden). Später am Nachmittag machten die Revolutionsgarden wieder andere Angaben und erklärten, sie hätten nichts mit dem Fall Edris Feqhi zu tun und er sei bei einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen zwei bewaffneten kurdischen Oppositionsgruppen getötet worden. Aus Verzweiflung über diese widersprüchlichen Darstellungen drohte die Mutter von Edris Feqhi, sich selbst zu verbrennen. Daraufhin brachten die Revolutionsgarden sie und den Bruder von Edris Feqhi ins Gebäude Nr. 114 und erklärten ihnen, Mohsen Ghaderi habe den Leichnam von Edris Feqhi nach dessen Erschießung weggebracht und an einem unbekannten Ort begraben. Anschließend fuhren sie die Mutter und den Bruder von Edris Feqhi zu einer nahegelegenen Polizeiwache, wo sie dazu gedrängt wurden, eine Erklärung zu unterzeichnen, in der sie sich verpflichteten, sich nie wieder vor dem Gebäude Nr. 114 zu versammeln. Weitere Angehörige, die vor dem Büro Nr. 114 standen, wurden ebenfalls zur Polizeiwache eskortiert und genötigt, die Erklärung zu unterzeichnen. Angesichts des anhaltenden Drängens der Familie von Edris Feqhi auf die Herausgabe von Informationen teilte ein Angehöriger der Revolutionsgarden dieser auf der Polizeiwache außerhalb der Hörweite anderer Sicherheitskräfte mit, dass Edris Feqhi in der Almahdi-Kaserne festgehalten werde.
Wie Amnesty International erfahren hat, engagierte sich Edris Feqhi in der Provinz Kurdistan seit vielen Jahren zivilgesellschaftlich und für den Umweltschutz. Eine Erklärung der PJAK vom 6. August 2021 deutet darauf hin, dass Edris Feqhi angesichts der zunehmenden Angriffe auf zivilgesellschaftliche Aktivist*innen beschlossen hatte, sich dem politischen Flügel der PJAK anzuschließen und zu deren Stützpunkt im Nordirak zu ziehen. Die PJAK hat sowohl einen bewaffneten als auch einen politischen Flügel. Alle, die sich dem politischen Flügel anschließen, dürfen Waffen tragen, auch wenn sie zu Rekrutierungs- oder politischen Organisationszwecken in den Iran einreisen. Sie werden aber nicht damit beauftragt, bewaffnete Angriffe auf staatliche Einrichtungen durchzuführen. Ein lokaler Journalist, der die Umstände der Schießerei vom 24. Juli 2021 unter anderem durch Gespräche mit Zeug*innen vor Ort untersucht hat, erklärte dem KHRN im August 2021, dass Edris Feqhi und Mohsen Ghaderi zum Zeitpunkt des Überfalls nicht bewaffnet waren. Dem Journalisten zufolge haben die Revolutionsgarden die Männer identifiziert, nachdem die Person, bei der diese sich im Iran aufgehalten hatten, die beiden Männer gemeldet hatte. Das Recht auf freie Meinungsäußerung schließt das Recht ein, friedlich für politische Ideen einzutreten, solange die vertretenen Ideen keinen Hass fördern, der eine Aufstachelung zu Diskriminierung, Hass oder Gewalt darstellt. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte geschützt, den der Iran ratifiziert hat.