Amnesty Journal Brasilien 22. Juni 2016

Finger am Abzug

Finger am Abzug

Im Complexo da Mare in Rio de Janeiro am 30. März 2014

Brasiliens Polizei ist jährlich für Hunderte Tote verantwortlich. Die Opfer sind ­meistens männlich, jung und schwarz. Menschenrechtsverteidiger fürchten, dass die Polizeigewalt während der Olympischen Spiele in Rio zunehmen wird.

Von Ralf Rebmann

Am Abend des 2. Oktober 2009 war Luiz Inácio Lula da Silva außer sich vor Freude. Die Welt habe endlich die sozialen und wirtschaftlichen Erfolge seines Landes anerkannt, sagte der damalige brasilianische Präsident. Er sprach von einem "heiligen Tag", einem Sieg für Brasilien und für ganz Lateinamerika. Der Grund seiner Euphorie: Die brasilianische Metropole Rio de Janeiro hatte den Zuschlag für die Austragung der Olympischen Sommerspiele 2016 erhalten.

Knapp sieben Jahre später und nur Wochen vor der Eröffnung der Spiele ist wenig von der Euphorie geblieben. Brasilien befindet sich in einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise. Das Land kämpft mit dem größten Korruptions­skandal seiner Geschichte, in den Minister aller Parteien verstrickt sind – mutmaßlich auch Ex-Präsident Lula. Derweil arbeitet die rechte Opposition erfolgreich an der Demontage von Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff. Mitte Mai wurde sie vorläufig vom Amt suspendiert.

Angesichts dieser Situation überrascht es nicht, dass die meisten cariocas, die Bewohnerinnen und Bewohner von Rio de Janeiro, wenig Interesse an den Olympischen Spielen zeigen. Es mag auch daran liegen, dass teure Großveranstaltungen, wie bereits die Fußball-WM 2014, für den Großteil der brasilianischen Bevölkerung mehr Probleme verursachen, als dass sie ihre wirtschaftliche oder soziale Situation verbessern würden.

Intransparenz bei der Vergabe von Bauprojekten, Rechtsverstöße und Zwangsräumungen ganzer Wohnviertel sind einige der schwerwiegendsten Vorwürfe. Doch auch ein anderes Thema ist seit der Fußball-WM in Erinnerung geblieben: das brutale Vorgehen der brasilianischen Polizei im Namen der "Befriedung" der Favelas und des "Anti-Drogenkrieges".

"Rio de Janeiro hat zwei Gesichter", sagt Atila Roque, Direktor von Amnesty International in Brasilien. Das eine sei schillernd und glänzend, um den Rest der Welt zu beeindrucken. Das andere sei geprägt von massiver Polizeigewalt. "Den Bewohnerinnen und Bewohnern von Rio wurde als Vermächtnis der Olympischen Spiele eine sichere Stadt versprochen. Stattdessen erleben sie einen Anstieg der Polizeigewalt", berichtet Roque.

Tötungen durch Polizisten werden verschleiert

Brasilien hat eine der höchsten Mordraten weltweit. Im Jahr 2014, dem Jahr der Fußball-WM, wurden mindestens 56.000 Menschen getötet – und in nicht wenigen Fällen war die Polizei dafür verantwortlich. Einen Anhaltspunkt für die Dimension der Gewalt liefern Statistiken des staatlichen Instituts für öffentliche Sicherheit. Demzufolge wurden 2014 bei Polizeieinsätzen im Bundestaat Rio de Janeiro 580 Personen durch Polizeikräfte getötet. Im Jahr 2015 waren es sogar 645 Personen.

Besonders gewalttätig gehen Sicherheitskräfte in der Stadt Rio vor: Fast jedes fünfte Todesopfer stirbt dort durch die Kugeln der Polizei. Nichtregierungsorganisationen wie das "Brasilianische Forum für öffentliche Sicherheit" gehen davon aus, dass die Zahlen sogar noch höher liegen, denn nicht alle Todesfälle, die auf Polizeigewalt zurückgehen, würden als solche registriert und zudem würden die Tatorte oft genug manipuliert.

Dokumentiert ist dies beispielsweise im Fall von Eduardo de Jesus. Im April 2015 wurde der Zehnjährige vor seinem Haus in der Favela "Complexo do Alemão" in Rio de Janeiro von der Militärpolizei erschossen. Bilder des Tatorts verbreiteten sich blitzschnell über Facebook und andere soziale Netzwerke. Schockierend waren nicht nur das brutale Vorgehen der Polizei, sondern auch Versuche der Beamten, eine Waffe neben die Leiche des Zehnjährigen zu platzieren.

Landesweite Empörung erregte auch der Fall der 38-jährigen Claudia da Silva Ferreira: Im März 2014 wurde die Mutter von vier Kindern bei einer Schießerei zwischen der Polizei und einer lokalen Gang getroffen und blieb verletzt liegen. Polizisten zerrten sie anschließend in den Kofferraum des Polizeiautos. Als sich dieser während der Fahrt öffnete, wurde Ferreira mehrere hundert Meter mitgeschleift. Sie starb später im Krankenhaus.

In beiden Fällen wurden bisher keine Polizeibeamten für ihr Fehlverhalten verurteilt. Recherchen von Amnesty International zeigen, wie selten die für Polizeigewalt Verantwortlichen in Brasilien zur Rechenschaft gezogen werden: Von 220 Verfahren, die im Jahr 2011 gegen Polizisten eröffnet wurden, ist bis Mitte 2015 nur in einem Fall ein Polizeibeamter verurteilt worden. "Zu kaum einem der tödlichen Polizeieinsätze wurden bisher Ermittlungen eingeleitet", sagt Atila Roque.

Viele Todesfälle würden von der Polizei zudem als "Tod durch Widersetzen" deklariert. Diese Kategorisierung diene auch dazu, widerrechtliche Tötungen durch Polizisten zu verschleiern. Die Manipulation der Tatorte, das Verschwindenlassen von Todesopfern und die fehlende Bereitschaft, die Taten aufzuklären, seien die Hauptursachen, wieso Polizisten kaum verurteilt würden.

Angesichts der bevorstehenden Olympischen Spiele und möglicher Straßenproteste warnt Roque vor einer Polizeistrategie, die auf Gummigeschosse, Handgranaten und Feuerwaffen setzt: "Wir erwarten von den Polizeikräften, dass sie bei ihren Einsätzen umsichtig vorgehen, statt ihre bisherige Strategie 'erst schießen, dann fragen' fortzuführen."

Militarisierung der Favelas wegen Olympischer Spiele

Fransérgio Goulart ist sich sicher, dass der Anstieg der Polizeigewalt direkt mit den Olympischen Spielen zusammenhängt. Goulart gehört zur Initiative "Fórum de Juventudes do Rio de Janeiro", die sich um Jugendliche in den Favelas kümmert. "Die Militarisierung der Favelas dient dazu, Rio de Janeiro für Wohlhabende und Unternehmer attraktiv zu machen", sagt er.

Die Opfer dieser Militarisierung sind in erster Linie schwarze Jugendliche aus den Favelas. Laut Informationen von Amnesty International wurden zwischen 2010 und 2013 in Rio de Janeiro 1.275 Personen von der Polizei getötet. Davon waren 99,5 Prozent männlich, 79 Prozent schwarz und 75 Prozent zwischen 15 und 29 Jahre alt.

Um dieser Gewalt etwas entgegenzusetzen und den Jugendlichen eine Stimme zu geben, hat die Initiative jüngst die Smartphone-App "Nós por Nós" ("Von uns, für uns") veröffentlicht. "Wir haben Workshops in 14 Favelas durchgeführt, um von den Jugendlichen zu erfahren, wie sie die Militarisierung ihrer Nachbarschaft wahrnehmen", sagt Goulart. Danach entstand die Idee, eine Smartphone-App zu entwickeln, mit der Gewalt und Übergriffe durch die Polizei schneller gemeldet und dokumentiert werden können.

Seit die App im März 2016 veröffentlicht wurde, habe es schon mehr als 70 Meldungen gegeben. Interesse dafür gebe es von zahlreichen Seiten – von lokalen und nationalen Medien, NGOs und Universitäten. "Die Menschen nutzen unsere App – das ist ein wichtiges Feedback", sagt Goulart.

Ob "Nós por Nós" wirklich ein Mittel gegen Straflosigkeit und Gewalt in den Reihen der brasilianischen Polizei sein kann, muss sich zeigen. Für die Olympischen Spiele, die im August beginnen, kommt die App jedenfalls zum richtigen Zeitpunkt.

Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin.

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