Amnesty Journal El Salvador 25. Juli 2011

"Das größte Problem ist die Straffreiheit"

Julia Evelyn Martínez, Leiterin des salvadorianischen ­Frauenentwicklungsinstituts ISDEMU, über Gewalt gegen Frauen und die Rechte der Frauen unter der
neuen Regierung in El Salvador.

Vor 18 Monaten wurde mit dem Fernsehjournalisten Mauricio Funes ein Kandidat der ehemaligen Guerillabewegung FMLN zum neuen Präsidenten El Salvadors gewählt. Damit fanden zwanzig Jahre Herrschaft der rechten ARENA-Partei ein Ende. Hat sich die Situation der Frauen dadurch geändert?
Auf jeden Fall. Das fängt bei den staatlichen Institutionen an: Es gibt klare Anweisungen der Regierung, dass in staatlichen Einrichtungen sexuelle Belästigung, die bisher fast immer toleriert wurde, nicht mehr geduldet werden soll. Ein anderes Beispiel ist der Gesundheitsbereich: Endlich gibt es kostenlose Vorsorgeuntersuchungen für Gebärmutterkrebs und Brustkrebs. In anderen Bereichen sind die Widerstände aus der Gesellschaft gegen eine andere Politik jedoch sehr groß: So wehren sich die rechten Parteien, aber auch die katholische Kirche vehement gegen Sexualkundeunterricht an den Schulen.

Gibt es auch Entwicklungen, die Ihnen nicht gefallen?
In zwei Bereichen fällt die bisherige Bilanz eindeutig negativ aus. Der erste ist die wachsende Gewalt gegen Frauen: Von 2008 auf 2009 ist die Zahl der Morde an Frauen um 84 Prozent gestiegen. El Salvador hat die weltweit höchste Rate von femicidios weltweit. Doch passiert viel zu wenig, um dies zu ändern. Diese spezielle Gewalt gegen Frauen wird bis heute nicht als eine Herausforderung für die Politik der öffentlichen Sicherheit empfunden.

Weshalb steigt die Gewalt gegen Frauen so stark an?
Das größte Problem ist die Straffreiheit. Bei Frauenmorden ist die Aufklärungsquote besonders niedrig. In gewisser Weise ist die Gewalt aber auch eine Reaktion darauf, dass Frauen ihre Rechte heute stärker als früher einfordern. Die Männer fühlen sich in ihrer Vormachtstellung angegriffen. 2010 wurden mehrere Massengräber mit insgesamt 260 Frauenleichen gefunden. Viele dieser Frauen wiesen schreckliche Folterspuren auf: Messer oder Flaschen in ihrer Vagina zum Beispiel. Wer so etwas macht, tut dies wahrscheinlich nicht nur, um seinen persönlichen Hass zu befriedigen. Er will auch ein Zeichen setzen, dass es allen Frauen so gehen kann, die sich für ihre Rechte einsetzen.

Was müsste geschehen, um diese Gewalt zu bremsen?
Wir brauchen eine größere Sensibilität der staatlichen Stellen bei Fällen von Gewalt gegen Frauen, das betrifft vor allem die Polizei und die Justiz. Wir vom ISDEMU haben eine Vereinbarung mit der Polizeiakademie getroffen, um Polizisten und Polizistinnen schon in der Ausbildung zu schulen, wie sie mit Frauen umgehen sollen, die Gewalt zur Anzeige bringen wollen, dabei geht es zumeist um Fälle häuslicher Gewalt. Bislang verhalten sich die meisten Polizisten so wie die Mehrheit der Männer in El Salvador: Sie neigen dazu, die Gewalt gegen Frauen, vor allem im häuslichen Bereich, zu bagatellisieren. Bewusst oder unbewusst solidarisieren sich viele mit den Tätern und fragen eine Frau, die eine Gewalttat anzeigen will, ob sie etwa Mitschuld trägt für das, was passiert ist – ob sie zum Beispiel treu war.

Das Hauptproblem aber ist der Bereich Justiz. Viele Richter sehen Gewalt gegen Frauen im häuslichen Umfeld nicht als ein Verbrechen an, sondern suchen nach Rechtfertigungen. Häufig bleiben die Täter straffrei oder kommen mit Bewährungsstrafen davon. Und die Frauen wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen, um Schutz vor ihren gewalttätigen Ehemännern zu finden. Das einzige staatliche Frauenhaus in El Salvador verfügt lediglich über 30 Plätze.

Wie bewerten Sie das neue Gesetz gegen Gewalt an Frauen?
Dieses Gesetz ist ein riesiger Erfolg für die Frauenbewegung. Es wurde am 25. November 2010, am Internationalen Tag gegen die Gewalt gegen Frauen, einstimmig vom Parlament verabschiedet. Es bedeutet einen riesigen Fortschritt für den Schutz der Menschenrechte der Frauen, vor allem das Recht auf ein Leben ohne Gewalt.

Was macht dieses Gesetz so wichtig?
Es hat viele positive Aspekte. Insbesondere legt es fest, dass die Regierung eine nationale Politik gegen die Geschlechtergewalt ausarbeiten muss. Dabei sollen alle staatlichen Institutionen einbezogen werden, die in irgendeiner Weise mit den Auswirkungen und der Vorbeugung der Gewalt gegen Frauen zu tun haben. Dazu zählen unter anderem das Bildungs- und das Gesundheitsministerium, das Ministerium für öffentliche Sicherheit, die Polizei und die Kommunalverwaltungen. Das ISDEMU hat die Aufgabe übernommen, alle Maßnahmen zu überwachen und zu evaluieren sowie die beteiligten Institutionen zu koordinieren. Außerdem erhöht das Gesetz die Strafen für die Gewalttaten an Frauen, zum Beispiel wenn sie von Partnern oder ehemaligen Partnern verübt werden.

In welchen Bereichen fällt die Bilanz der Regierung negativ aus?
Bei den reproduktiven Rechten. El Salvador hat neben Nicaragua das schärfste Abtreibungsrecht in ganz Lateinamerika. Seit 2000 ist Abtreibung grundsätzlich verboten, selbst aus medizinischen Gründen, wenn das Leben der Frau in Gefahr ist, bei ­Inzest oder wenn die Frau vergewaltigt wurde.

Haben die Frauen keine Alternative?
Frauen aus der Mittel- oder der Oberschicht können im Ausland abtreiben oder sich in einer Privatklinik behandeln lassen, wenn es nach einer Abtreibung Komplikationen gibt. Diese Möglichkeit haben arme Frauen nicht. Sie versuchen, selbst abzutreiben oder lassen unsichere Abtreibungen vornehmen. Wenn sie nach Komplikationen in ein öffentliches Krankenhaus kommen, werden sie von den Ärzten oder Pflegerinnen angezeigt, weil sich diese sonst selbst strafbar machen würden. Den Frauen drohen Haftstrafen bis zu acht Jahren. Wenn die Richter die Abtreibung als schweren Mord bewerten, sogar bis zu 30 Jahren. In so einer Situation begehen viele, vor allem junge Frauen, aus lauter Verzweiflung Selbstmord.

Ende Oktober hat der UNO-Menschenrechtsrat El Salvador ­aufgefordert, Frauen, die ihre Schwangerschaft abbrechen, nicht mehr strafrechtlich zu verfolgen. Wie reagiert die Re­gierung?
Die Kritik des Menschenrechtsrates ist angesichts der Gesetzeslage nicht verwunderlich. Leider traut sich die Regierung an dieses Thema nicht heran. Nicht die Frauenrechte stehen im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern Umfrageergebnisse und mögliche politische Allianzen mit anderen Parteien. Weder Präsident Funes noch die FMLN wollen sich mit der katholischen ­Kirche anlegen, die gegen jede Liberalisierung des Abtreibungsrechts ist. Auch ich wurde vom Präsidenten schon dafür kritisiert, dass ich mich für ein weniger absolutes Verbot ausgesprochen habe.

Fragen: Michael Krämer

Julia Evelyn Martínez bezeichnet sich selbst als feministische Ökonomin. Sie hat lange Zeit an der Jesuitenuniversität (UCA) in San Salvador Ökonomie gelehrt. Seit Juni 2009 leitet sie das staatliche Frauenentwicklungsinstitut ISDEMU.

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