Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 26. Juli 2018

Soundtrack zum Widerstand

Ein Mann sitzt mit einem Saxophon vor gelbem Hintergrund

Kamasi Washington

Mit seinem neuen Album "Heaven & Earth" gelingt dem gefeierten Tenorsaxofonisten Kamasi Washington die Repolitisierung des Jazz.

Von Thomas Winkler

Jazz ist wieder, Achtung, politisch relevant. Ein bis vor Kurzem noch vollkommen absurder Satz. Jazz? Das war doch Musik für Studienräte. Hintergrundbeschallung in der Cocktailbar. Jazz war viel Vergangenheit, wenig Gegenwart und keine Zukunft.

Doch nun ist alles anders. Dank Kamasi Washington ist Jazz plötzlich wieder aufregend. Zeitgemäß. Mitreißend. Und ja, vor allem das: politisch. Denn dem Tenorsaxofonisten aus Los Angeles, der sich zunächst Meriten als prägender Mitarbeiter von Rap- und Pop-Größen wie Snoop Dogg, Lauryn Hill und Kendrick Lamar erworben hat, ist es gelungen, den Jazz musikalisch wiederzubeleben. Mit seiner eigenen Band schloss er das altehrwürdige Gewerbe mit den afro-amerikanischen Gegenwartsmusiken HipHop und R&B kurz und entriss es so der Deutungshoheit weißer Akademiker. Washingtons aktuelles ­Album "Heaven & Earth" nimmt außerdem ganz unverblümt und ausdrücklich auf die aktuelle gesellschaftliche Situation in den USA Bezug – für den oft um Worte verlegenen Jazz ist dies immer noch eine Sensation.

Nahezu zweieinhalb Stunden lang geht es auf "Heaven & Earth" auf und ab, vor und zurück, durch die Geschichte des Jazz und hinein in seine Zukunft. Das neue Doppelalbum des 34-Jährigen ist musikalisch noch breiter angelegt als der gefeierte Erstling "The Epic" vor drei Jahren. Zwar bezieht sich Washington erneut auf große Momente des Jazz, vor allem auf den von ihm verehrten John Coltrane und den Spiritual Jazz, den dieser mit seinem Meisterwerk "A Love Supreme" aus der Taufe gehoben hatte. Aber Washington zeigt auch neue Wege auf, die nicht zwangsläufig in eine immer größere Komplexität münden: Bei ihm schwingen sich Chöre auf in die höchsten Sphären, Melodien beschreiben epische Bögen, und die beiden Schlagzeuger klöppeln sich durch vertrackte Polyrhythmen. Immer wieder scheinen die selten unter zehn Minuten langen Stücke in Richtung Filmmusik abzuheben und eine Cinemascope-Leinwand auszufüllen.

Washingtons Idee von Jazz ist immer eingängig, ja massenwirksam, weil weniger verkopft als die anderer Jazz-Musiker. Bei ihm ist Jazz eine Musik, die sich nicht nur an sich selbst berauscht, sondern vor allem einen Blick auf die Welt wirft. Eine Welt, die immer noch von Rassismus und Sexismus bestimmt wird. Gleich im Eröffnungssong "Fists of Fury" greift Washington aktuelle Diskussionen über Polizeibrutalität in den USA, #BlackLivesMatter und #MeToo auf, wenn eine Frauenstimme immer wieder das Selbstermächtigungsmantra vorträgt: "Our time as victims is over. We will no longer ask for justice. Instead we will take our retribution."

Opfer. Gerechtigkeit. Vergeltung. Und dazu Musik, die ebenso groß ist wie diese Worte. Musik, die stolz ­wieder das werden will, was sie lange nicht mehr war: Träger von Protest, Soundtrack zum Umsturz, Rhythmus des Wandels. Ja, Jazz ist politisch. Zumindest der von Kamasi ­Washington.

Kamasi Washington: "Heaven & Earth" (Young Turks/XL/Beggars Group/Indigo)

Film- und Musiktipps

Hommage an die Revolutionäre

Seun Kuti ist der jüngste Sohn des 1997 verstorbenen Afro­beat-Erfinders Fela Kuti. Nach dessen Tod übernahm er dessen Band, Egypt 80. Seit gut zehn Jahren hat er sich aus dem Schatten seines Vaters gelöst und einen eigenen Ruf erspielt. Auf dem Cover seines neuen Albums zeigt sich Seun Kuti nun mit schwarzem Beret und dicker Zigarre, eine Kreuzung aus militantem Black-Panther-Aktivisten und kubanischem Comandante – als "letzter Revolutionär", wie der Eröffnungssong heißt. Darin zählt Kuti seine Vorbilder auf, von ermordeten afrikanischen Staatschefs wie Thomas Sankara über Patrice Lumumba bis zum US-Bürgerrechtler Kwame Ture alias Stokely Carmichael. Auch der Vater darf nicht fehlen. Das Album ist eine Hommage an große Männer, die sich für einen radikalen gesellschaftlichen Wandel eingesetzt haben. Die scharfe Anklage korrupter Machthaber in Nigeria und globaler ­Eliten, des Brain Drains der afrikanischen Mittelschichten ­sowie die Feier eines panafrikanischen Bewusstseins sind quasi Familientradition. Funk-Bläser, treibende Percussion und mitreißende Call-and-Response-Chants kleiden diese Botschaften in ein äußerst ansprechendes, zeitgemäßes Gewand. Illustre Gäste wie der Rapper Yasiin Bey (früher Mos Def) und die Gitarren-Legende Carlos Santana geben sich ein Stelldichein. Seun Kuti zeigt: Der afrikanische Traum lebt.

Seun Kuti & Egypt 80: Black Times (Strut Records / Groove Attack)

Klangvoller Stimmverlust

Die palästinensische Sängerin Rim Banna ist im März diesen Jahres gestorben, sie wurde gerade einmal 51 Jahre alt. Zu ihrer Beerdigung in ihrer Heimatstadt Nazareth kamen Hunderte Menschen. Rim Banna war eine Symbolfigur des friedlichen palästinensischen Protests gegen Besatzung und Unterdrückung. Sie trat oft in traditionellen Gewändern auf und verstand sich als politische Aktivistin, verfolgte in ihrer Musik aber einen durchweg modernen und subjektiven Ansatz. Durch ein Krebsleiden waren ihre Stimmbänder zuletzt teilweise gelähmt, und sie konnte deshalb nicht mehr singen. Dennoch nahm sie noch ein letztes Album auf, es ist ihr Vermächtnis geworden. Auf "Voice of Resistance" verarbeitete sie ihre Krankheit auf ungewöhnliche Weise. Das tunesische Elektronik-Kollektiv Checkpoint 303 wandelte die Daten ihrer medizinischen Untersuchungsergebnisse, die Computertomographie-Scans und Röntgenbilder, in Töne um und baute daraus meditative Soundscapes. Der norwegische Jazz-Pianist Bugge Wesseltoft steuerte zarte Piano-Improvisationen bei. Rim Banna sang und rezitierte dazu Gedichte, in denen sie ihren Kampf gegen die Krankheit mit ihrem Einsatz für die Rechte der Palästinenser verwob. Ihre Poesie und die jazzig-elektronischen Melodien verschmelzen zu einem experimentellen Klangkunstwerk, dessen Wirkung man sich kaum entziehen kann. Die arabische Musikwelt hat mit Rim Banna eine außergewöhnliche Stimme verloren.

Rim Banna feat. Checkpoint 303 and Bugge Wesseltoft: Voice of Resistance (Kirkelig / Indigo)

Digitales Elend

Die größte Elektroschrottdeponie Europas befindet sich in Afrika: "Sodom" oder auch "Toxic City" nennt man den Stadtteil Agbogbloshie in Ghanas Hauptstadt Accra. 250.000 Tonnen ausrangierte Teile der digitalen Wohlstandsgesellschaft landen hier jährlich: Computer und Smartphones, Drucker, Klimaanlagen, Kabel. 6.000 Menschen arbeiten und leben auf der Deponie, laut Experten müssten sie nach spätestens zwei Stunden von hier verschwinden. Die Schadstoffkonzentration ist immens: Überall brennen Feuer, um die Metalle aus den Geräten herauszukochen. Der Dokumentarfilm "Welcome to Sodom" lässt jene zu Wort kommen, die hier Metalle sammeln und Computerbildschirme demontieren. Es dürfte einer der dreckigsten und giftigsten Orte der Welt sein. Und dennoch gibt es mittendrin Viehzucht, Fußballspiele und Geschäfte aller Art. Dieser Film kann als Kommentar zu Weltwirtschaft und zum globalen Wohlstandsgefälle gesehen werden. Der Alltag auf der Müllkippe bietet bizarre Szenen. Etwa wenn zwei Sammler auf ein Mobiltelefon stoßen, auf dem noch die Urlaubsbilder einer weißen Familie gespeichert sind, oder wenn ein homosexueller Jude erzählt, dass dies einer der wenigen Orte ist, an dem er sich sicher fühlt, oder wenn ein Mädchen die Geschlechtsidentität nach Belieben wechselt, um besser durchs Leben zu kommen. Eine vielfältige Wirklichkeit, in spektakulären Bildern erzählt: Mehr Kino geht nicht.

"Welcome to Sodom". A/GH 2018. Regie: Christian ­Krönes, Florian Weigensamer. Kinostart: 2. August 2018

Not macht keine Ferien

"Halten Sie sich fern, greifen Sie nicht ein, Hilfe ist unterwegs!" Eindringlich fordert die Küstenwache die Ärztin Rike auf, sich nicht einem Schiff mit Flüchtlingen zu nähern und auf ihrem Segelboot zu bleiben. Die Medizinerin, die einen Segeltörn von Gibraltar aus in den Atlantik unternommen hat, um sich für ein paar Tage von ihrem stressigen Alltag in der Klinik zu erholen, steht vor einer schwierigen Entscheidung: Ihr hippokratischer Eid gebietet es ihr, den in Not geratenen Menschen auf dem sinkenden Seelenverkäufer zu helfen. Die ersten springen ins Wasser, bald schwimmt ein Kind längsseits, mit schweren Treibstoffverätzungen auf der Haut. Andererseits ist da die Angst, sich den Behörden zu widersetzen: Aber die Hilfskräfte lassen auf sich warten, und es ist zu vermuten, dass sie nie kommen werden. In seinem Drama "Styx" erzählt Regisseur Wolfgang Fischer vom Zusammenprall zwischen der europäischen Freizeitgesellschaft und dem Elend des Flüchtlingsdaseins und davon, wie eine starke Frau unvermittelt von der Ersten in die Dritte Welt gerissen wird. Die Kameraarbeit rund um die zentrale Figur der Rike, hervorragend gespielt von Susanne Wolf, ist leider nicht frei von Voyeurismus. Das wirkt sich nicht unbedingt positiv auf das Gesamtwerk aus. Dennoch ist dies ein sehenswertes Filmexperiment auf hoher See. Der Hauptdarsteller dieser Tragödie: der sichere Tod.

"Styx". D/A 2018. Regie: Wolfgang Fischer. Darsteller: Gedion Oduor Wekesa, Susanne Wolff. Kinostart: 9. August 2018

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