Amnesty Journal Kuwait 12. Juni 2023

Staatenlos am Golf

Jugendliche stehen vor einfachen Häusern mit Flachdach an einer Straßenecke, im Hntergrund Strommasten, auf der Straße Wasserpfützen.

Kuwait verweigert den Bidun seit Jahrzehnten die Staatsbürgerschaft und damit auch grundlegende Rechte. Dabei lebt diese Bevölkerungsgruppe seit Generationen in dem Emirat.

Aus Kuwait-City von Frank Odenthal

Als sie ihn in das berüchtigte Polizeipräsidium von Kuwait-City brachten, ahnte Hamad Al-Nasser*, was geschehen würde: Man würde ihn foltern. Sein einziges Vergehen: Er gehört der Bevölkerungsgruppe der Bidun an, die in Kuwait seit Jahrzehnten unterdrückt wird.

Dass der Staat Bidun nicht als Staatsbürger*innen anerkennt, hat gravierende Folgen. So bekommt Al-Nasser zum Beispiel keinen Reisepass und kann das Land deshalb nicht auf legalem Weg verlassen. Weil er nicht einmal eine Geburtsurkunde erhält, kann er auch nicht offiziell heiraten. "Ich kann weder den Führerschein machen noch ein Bankkonto eröffnen", berichtet er. Die Bidun haben keinen Zugang zu höheren Schulen geschweige denn zu Universitäten. Sie leben in ärmlichen Verhältnissen am Rande der glitzernden Metropole Kuwait-City und schlagen sich mit informellen Jobs durch, etwa im Gemüsehandel oder im Baugewerbe.

Überfall des Iraks

Die Bezeichnung Bidun geht auf den arabischen Begriff "bedoon jinsiya" (ohne Nationalität) zurück. Ursprünglich waren die Bidun Beduinen im Norden ­Kuwaits, an der Grenze zum Irak. Als sich Kuwait 1961 von der britischen Kolonialmacht löste, versäumten es viele von ­ihnen, sich als Bürger*innen des neuen Staates eintragen zu lassen, weil ihnen der Zweck nicht klar war oder sie die Formalitäten nicht verstanden. So blieben sie zunächst ohne Staatsbürgerschaft in ihrer Heimat, was zunächst kein Problem darstellte.

Das änderte sich am 2. August 1990, als Truppen des irakischen Diktators Saddam Hussein in Kuwait einfielen. "Seitdem sind der Regierung Menschen mit irakischen Wurzeln suspekt", sagt Hamad Al-Nasser. Und dies werde gegen die Bidun verwendet. Er selbst sei in Kuwait ­geboren – wie sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater. Vor fünf Generationen sei ein Vorfahr der Familie aus dem Gebiet des heutigen Iraks nach Kuwait ­gekommen. "Das war vor über hundert Jahren", sagt Al-Nasser.

Gemäß internationalem Recht gilt als staatenlos, wer von keinem Staat als Staatsangehöriger angesehen wird. Jedes Land hat eigene Gesetze, die regeln, wer Anspruch auf die Staatsbürgerschaft hat. In den meisten Ländern wird sie mit der Geburt erworben, entweder indem Eltern sie auf ihre Kinder übertragen oder indem Kinder sie automatisch dort erhalten, wo sie geboren wurden. Staaten nennen unterschiedliche Gründe, um die Staatsbürgerschaft zu verweigern oder zu entziehen. Rassistische Diskriminierung oder Diskriminierung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Sprache oder Geschlecht spielen dabei eine Rolle, aber auch Lücken in der Gesetzgebung.

"I belong"

2014 starteten die Vereinten Nationen die Kampagne "I belong", um das Problem der Staatenlosigkeit zu bekämpfen. Dutzende Nichtregierungsorganisationen unterstützen diese Initiative, die das Thema weltweit ins öffentliche Bewusstsein bringen will. Ihr Erfolg hängt davon ab, ob die jeweiligen Regierungen willens sind, ihre Gesetze anzupassen.

In Kuwait ist davon noch nicht viel zu spüren. Schätzungsweise 200.000 Bidun leben in dem kleinen Emirat am Persischen Golf. Weil sie nirgendwo registriert sind, handelt es sich um eine grobe Schätzung. Gemessen an den nur etwa 1,3 Millionen Einwohner*innen Kuwaits stellen die Bidun rund 15 Prozent der Bevölkerung. Offiziell gelten sie als "illegale" ­Einwohner*innen, faktisch sind sie Bür­ger*in­nen zweiter Klasse.

Das Land verfügt über acht Prozent der weltweiten Ölreserven, was Kuwait zum fünftreichsten Land der Erde macht. Die Staatsbürger*innen profitieren davon: Nicht nur alle Bildungseinrichtungen, vom Kindergarten bis zur Universität, sind für sie kostenlos, sondern auch die Gesundheitsversorgung.

Die Bidun sind hingegen vom Gesundheitssystem ausgeschlossen. Krankenhäuser lehnen es ab, sie zu behandeln, es sei denn, sie können selbst bezahlen. Doch das kann sich kaum jemand leisten.

Immer wieder versucht die Regierung, die unliebsame Minderheit loszuwerden, indem sie anderen Staaten – dem Sudan, den Komoren – Entwicklungshilfe verspricht, sollten diese die Bidun als Staatsbürger*innen aufnehmen. Nach internationalem Druck bietet ein Gesetzentwurf den Bidun nun sogar Zugang zu staatlichen Leistungen an, wenn sie im Gegenzug auf die kuwaitische Staatsbürgerschaft verzichten. Es ist fraglich, ob sich viele der Betroffenen darauf einlassen. Der Weg zu einem gleichberechtigten ­Leben in Kuwait liegt für die Bidun ­jedenfalls in der Ferne.

Für Al-Nasser hat seine Staatenlosigkeit fatale Folgen. Er leidet an einer schmerzhaften Autoimmunkrankheit, die seine Wirbelsäule versteift und in seinen Beinen Lähmungserscheinungen auslöst. Sein neunjähriger Sohn leidet an einer gefährlichen Form von Epilepsie, die dringend behandelt werden müsste. Al-Nasser nahm deshalb Kontakt zu Kliniken in Ägypten und der Türkei auf, die ihn und seinen Sohn behandeln würden. Doch die kuwaitischen Behörden verweigern ihm die Ausreise.

Flucht und Folter

Vor acht Jahren, sein Sohn war noch ein Baby, war er wild entschlossen, im Ausland Hilfe zu suchen. Gemeinsam mit seinen beiden Brüdern bestach er einen Behördenmitarbeiter, der ihm einen Reisepass mit einem Studienvisum für die USA ausstellte. Monatelang habe er hart gearbeitet, um die Bestechungssumme aufzubringen und den Flug zu bezahlen, erinnert er sich. "Ich hatte nur diesen ­einen Versuch. Nochmal hätte ich die Summe nicht aufbringen können."

Es war der Auftakt zu einer Odyssee, die ihn in die USA, nach Kanada und über Großbritannien zurück nach Kuwait führte. Anstatt zu studieren, bat er um Asyl, doch die jeweiligen Behörden sahen sich nicht zuständig, leiteten ihn weiter und schoben ihn schließlich nach Kuwait ab. Von der medizinischen Notlage Al-Nassers und seines Sohnes zeigten sie sich unbeeindruckt; von den Gefahren, die in seiner Heimat auf ihn warteten, wollten sie nichts wissen.

Als er 2015 wieder in Kuwait-City eintraf, wurde er inhaftiert. Im Gefängnis des Polizeipräsidiums traf er auf seine Brüder und seinen Vater. Sie wurden ­gefoltert und man drohte ihnen, sie für 20 Jahre in eine Zelle zu sperren, sollten sie erneut auffällig werden. Hamad Al-Nasser dokumentierte die Spuren der Folter nach seiner Entlassung – gebrochene Arme, klaffende Wunden an den Zehen, Blutergüsse an den Beinen und auf den Fußsohlen. Doch seine Foltervorwürfe wurden nie untersucht, er ist schließlich nur ein B­idun.

Angst, erneut verhaftet zu werden, hat er nicht. "Es geht nicht nur um mich, sondern auch um die Zukunft meiner Familie, meines Sohnes", sagt Hamad Al-Nasser, "deshalb werde ich nicht schweigen."

* Der Name wurde zu seinem Schutz geändert und ist der Redaktion bekannt.

Frank Odenthal ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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