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Russland: LGBTI-Aktivisten verschleppt
LGBTI Personen existieren in Tschetschenien!
© Amnesty International
Am 4. Februar wurden Salekh Magamadov und Ismail Isaev in Zentralrussland von der Polizei entführt und nach Tschetschenien gebracht. Von dort waren die Geschwister 2020 geflohen, nachdem sie willkürlich inhaftiert und nach eigenen Angaben gefoltert worden waren, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen hatten. Außerdem hatten sie weitere Repressalien befürchtet, unter anderem im Zusammenhang mit ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität. Ihr Aufenthaltsort ist derzeit unbekannt. Sie sind Opfer des Verschwindenlassens und ihre körperliche und geistige Unversehrtheit sowie ihr Leben sind in Gefahr.
Appell an
Generalstaatsanwalt
Igor Viktorovich Krasnov
Prosecutor General’s Office,
Ul. Bolshaya Dmitrovka, 15a
Moscow GSP-3, 125993,
RUSSISCHE FÖDERATION
Sende eine Kopie an
Botschaft der Russischen Föderation
S.E. Herr Sergei Nechaev
Unter den Linden 63-65
10117 Berlin
Fax: 030-2299 397
E-Mail: info@russische-botschaft.de
Amnesty fordert:
- Bitte ergreifen Sie umgehend Maßnahmen, um den Aufenthaltsort von Salekh Magamadov und Ismail Isaev zu ermitteln und bekanntzugeben, und stellen Sie sicher, dass sie nicht gefoltert oder anderweitig misshandelt werden.
- Sorgen Sie für ihre unverzügliche Freilassung, es sei denn, sie werden umgehend wegen einer international als Straftat anerkannten Handlung angeklagt. In diesem Fall ist ihnen unverzüglich und ungehindert Zugang zu einem Rechtsbeistand ihrer Wahl zu gewähren.
- Stellen Sie sicher, dass ihre Menschenrechte in Übereinstimmung mit den Verpflichtungen Russlands nach dem Völkerrecht, einschließlich der UN-Kinderrechtskonvention, vollständig respektiert werden.
Sachlage
Es besteht große Sorge über das Verschwindenlassen von Salekh Magamadov und Ismail Isaev. Nach Angaben des Russischen LGBT-Netzes wurden die beiden Geschwister am 4. Februar 2020 in einer Wohnung in Nischni Nowgorod von der Polizei festgenommen und gegen ihren Willen nach Gudermes in Tschetschenien gebracht. Die Aktion komme einer Entführung gleich. Ihrem Rechtsbeistand wurde der Kontakt zu seinen Mandanten sowie jegliche Informationen über das betreffende Strafverfahren verweigert. Sie wurden rechtswidrig ohne ihren Rechtsbeistand oder die Anwesenheit von Familienangehörigen verhört, obwohl einer von ihnen minderjährig ist. Sie wurden zunächst freigelassen, unmittelbar danach aber wieder festgenommen und weggebracht – zunächst in das Dorf Sernovodskoe und dann an einen unbekannten Ort. Der Grund für ihre Festnahme, ihr Schicksal und ihr Verbleib sind ihren Rechtsbeiständen und Familienangehörigen unbekannt. Sie sind der Gefahr von Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt, und ihr Leben ist möglicherweise in Gefahr.
Salekh Magamadov und Ismail Isaev hatten bereits in der Vergangenheit rechtswidrigen Freiheitsentzug sowie Folter und andere Misshandlungen durch die tschetschenischen Behörden erlitten. Am 30. März 2020 wurden sie willkürlich von der tschetschenischen Polizei festgenommen und bis Mai rechtswidrig gefangen gehalten, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen hatten.
Hintergrundinformation
Salekh Magamadov und Ismail Isaev befinden sich seit Langem im Visier der tschetschenischen Behörden. Ismail Isaev wurde Medienberichten zufolge bereits 2019, im Alter von 16 Jahren, aufgrund seiner tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität Opfer von Gewalt und Verfolgung. Er wurde von der Polizei in Gewahrsam genommen, geschlagen und sieben Tage lang an einem unbekannten Ort festgehalten, bevor er gegen ein Lösegeld freigelassen wurde. Am 30. März 2020 wurden Ismail Isaev und Salekh Magamadov willkürlich von der tschetschenischen Polizei festgenommen und in einem Gebäude der Streifenpolizei festgehalten. Ihren Angaben zufolge wurden sie gefoltert und anderweitig misshandelt, um sie dafür zu bestrafen, dass sie die Telegram-Gruppe Osal Nakh 95 moderiert hatten, in der kritische Beiträge über die tschetschenischen Behörden und traditionelle Lebensweisen zu finden sind. Sie wurden im Mai 2020 wieder freigelassen, nachdem im Internet ein Video mit erzwungenen "Entschuldigungen" veröffentlicht wurde. Da sie befürchteten, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität weiteren Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden, flohen sie im Juli 2020 aus Tschetschenien. Da weiterhin Sorge um ihre Sicherheit bestand, half das Russische LGBT-Netzwerk ihnen dabei, nach Nischni Nowgorod im Zentrum Russlands umzuziehen.
Am 4. Februar 2021 berichtete das LGBT-Netzwerk, dass Ismail Isaev und Salekh Magamadov in ihrer Wohnung in Nischni Nowgorod von der Polizei festgenommen worden seien. Das LGBT-Netzwerk hatte während der Wohnungsdurchsuchung einen Anruf erhalten und sofort einen Rechtsbeistand dorthin geschickt. Dieser fand jedoch nur eine leere Wohnung und die Spuren einer gewaltsamen Auseinandersetzung vor. Schließlich erfuhr der Rechtsbeistand von der Lokalpolizei, dass Salekh Magamadov und Ismail Isaev festgenommen und nach Gudermes in Tschetschenien gebracht worden waren. Weitere Angaben zu dem Fall machte die Polizei keine.
Nach ihrer Ankunft in Gudermes am Nachmittag des 6. Februar wurden Salekh Magamadov und Ismail Isaev auf der örtlichen Polizeistation verhört. Ihrem Rechtsbeistand wurde weder Zugang zu seinen Mandanten gewährt, noch teilte man ihm die Einzelheiten des Falles mit. Gegen 20:00 Uhr wurden sie freigelassen, aber sofort wieder in Gewahrsam genommen, nachdem sie das Polizeigelände verlassen hatten. Ohne jegliche Erklärungen wurde sie mit einem Auto in das etwa 90 km entfernte Dorf Sernovodskoe, ebenfalls in Tschetschenien, gebracht. Ihr Vater und der Rechtsbeistand folgten ihnen. In Sernovodskoe durfte der Anwalt seine Mandanten erneut nicht sehen und auch die Polizeiwache nicht betreten. Nach Angaben des Rechtsbeistands kam gegen 23 Uhr ein ranghoher tschetschenischer Beamter auf die Polizeiwache und übte zusammen mit weiteren Polizist_innen Druck auf den Vater aus, jeden Versuch zu unterlassen, seine Kinder zu sehen, obwohl er der Erziehungsberechtigte des minderjährigen Ismail Isaev ist. Auch der Anwalt sollte die Geschwister nicht mehr vertreten. Daraufhin schickte das LGBT-Netzwerk einen weiteren Rechtsbeistand für die beiden nach Tschetschenien.
Als der neue Anwalt am 7. Februar, eintraf, erlaubte ihm die Polizei nicht, seine Mandanten zu sehen und weigerte sich, seine formelle Beschwerde entgegenzunehmen. Ein Kommandant der örtlichen Polizei teilte dem Anwalt mit, dass Salekh Magamadov und Ismail Isaev von einer anderen Behörde, die für die Tschetschenische Republik zuständigen Ermittlungsbehörde, befragt würden, weigerte sich aber, die Gründe für ihre Inhaftierung mitzuteilen oder ihm Aktenmaterial zu übergeben. Seitdem ist der Verbleib der beiden Gefangenen unbekannt. Am 8. Februar forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die russischen Behörden auf, umgehend Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass Salekh Magamadov und Ismail Isaev sofortigen und ungehinderten Zugang zu einem Rechtsbeistand ihrer Wahl und zu ihren Familienangehörigen erhalten und unverzüglich von unabhängigen medizinischem Personal untersucht werden.
Im Laufe der Jahre haben Menschenrechtsverteidiger_innen weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien dokumentiert, darunter massenhafte willkürliche Inhaftierungen, Folter und andere Misshandlungen sowie außergerichtliche Hinrichtungen. Diejenigen, die die tschetschenischen Behörden kritisieren, auch in den sozialen Medien, sehen sich schweren Repressalien ausgesetzt. Im September 2020 wurde der 19-jährige Salman Tepsurkaev, Moderator des beliebten Telegram-Kanals "1ADAT", entführt. Bei den Tätern soll es sich um Angehörige der tchetschenischen Strafverfolgungsbehörde aus der Region Krasnodar im Süden Russlands gehandelt haben. Salman Tepsurkaev wurde an einen geheimen Ort in Tschetschenien gebracht. Sein Schicksal und sein Verbleib sind seither unbekannt, obwohl Ende November 2020 eine strafrechtliche Ermittlung des Verschwindenlassens von Salman Tepsurkaev eingeleitet wurde.