Libyen: Aktivist vermisst

Portraitfoto eines jungen Mannes, er trägt eine schwarze Brille und ein dunkles Hemd mit einer roten Weste. Er fasst sich ans Kinn und lacht jemanden neben der Kamera an.

Der libysche Journalist Mansour Atti

Von dem Journalisten und Blogger Mansour Atti fehlt seit dem 3. Juni 2021 jede Spur. Damals wurde er in der Nähe seiner Arbeitsstelle in der Stadt Ajdabiya im Nordosten Libyens von bewaffneten Männern verschleppt. Berichten zufolge wird er im Osten des Landes von einer bewaffneten Gruppe festgehalten. Vor seiner Verschleppung war er wiederholt über seinen Aktivismus befragt worden.

Appell an

Colonel General Abdulrazek al-Nadoori

Supreme Commander of the Libyan Arab Armed Forces

Ar-Rajma, Benghazi

LIBYEN

Sende eine Kopie an

Libysche Botschaft

S. E. Herrn Jamal A O Elbarag


Podbielskiallee 42

14195 Berlin

Fax: 030-2005 9699

E-Mail: info@libysche-botschaft.de

 

Amnesty fordert:

 

  • Ich fordere Sie höflich auf, den Aufenthaltsort von Mansour Atti bekannt zu geben und bewaffnete Gruppen, die unter dem Kommando der Libysch-Arabischen Streitkräfte operieren, anzuweisen, ihn unverzüglich freizulassen.
  • Bis zu seiner Freilassung muss er Zugang zu seiner Familie und einer angemessenen medizinischen Versorgung erhalten und vor Folter und anderen Misshandlungen geschützt werden.

Sachlage

Mansour Atti ist Journalist, Blogger und Leiter des Roten Halbmonds in Ajdabiya. Er setzte sich im Rahmen der für den 24. Dezember angesetzten Präsidentschaftswahl für ein repressionsfreies Umfeld ein. Seit seiner Entführung am 3. Juni 2021 fehlt von ihm jede Spur. Um etwa 19 Uhr Ortszeit stiegen in der Nähe seiner Arbeitsstelle in Ajdabiya bewaffnete Männer aus drei Fahrzeugen aus und verschleppten Mansour Atti auf offener Straße. Seiner Familie ist nichts über sein Schicksal und seinen Verbleib bekannt, obwohl sie sich schriftlich bei den selbst ernannten Libysch-Arabischen Streitkräften (Libyan Arab Armed Forces – LAAF, auch bekannt als Libysche Nationalarmee) erkundigt hat. Diese bewaffnete Gruppe hat de facto die Kontrolle über den Osten des Landes inne. Die Familie wandte sich auch an weitere der LAAF nahestehende bewaffnete Gruppen sowie an die Leitung des Sicherheitsdienstes in Ajdabiya, der nominell dem Innenministerium untersteht.

Bis August 2021 bestritten die in Ajdabiya aktiven bewaffneten Gruppen sowie die offiziell dem Innenministerium unterstehenden Sicherheitskräfte, Mansour Atti in Gewahrsam zu halten. Berichten zufolge traf sich im August ein Kommandeur des 302. Bataillons, eine der LAAF nahestehende bewaffnete Gruppe, privat mit lokalen Stammesführern und Mitgliedern anderer bewaffneter Gruppen. Dort soll er bestätigt haben, dass Mansour Atti sich im Gewahrsam des 302. Bataillons befinde. Er gab jedoch weder den genauen Aufenthaltsort preis noch erlaubte man seiner Familie, ihn zu besuchen oder mit ihm zu kommunizieren.

Laut Angaben einer Quelle und wie aus schriftlichen Eingaben ersichtlich, die die Familie von Mansour Atti an die Kommandeure der im Osten Libyens aktiven bewaffneten Gruppen und an das Innenministerium gerichtet hat, war Mansour Atti vor seiner Verschleppung mehrmals vom Sicherheitsdienst in Ajdabiya vorgeladen und über seinen Aktivismus befragt worden.

Im Osten Libyens werden häufig Fälle dokumentiert, in denen bewaffnete Gruppen Personen in ihrem Gewahrsam folgenlos foltern und anderweitig misshandeln. Amnesty International befürchtet daher, dass Mansour Atti Folter und andere Misshandlungen drohen könnten.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Seit 2014 konkurrieren in Libyen zwei Institutionen um Legitimität und territoriale Kontrolle. Als Teil eines von den Vereinten Nationen unterstützten Prozesses einigten sich 75 Mitglieder des Libyan Political Dialogue Forum auf einen Plan zur Beendigung der politischen Krise und setzten im März 2021 eine Regierung der Nationalen Einheit ein, die für den 24. Dezember Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorbereiten soll. Allerdings tut sich die Regierung der Nationalen Einheit schwer, wirksame Kontrolle über libysche Gebiete zu erlangen, da weite Teile des Landes nach wie vor von bewaffneten Gruppen kontrolliert werden und politische Gräben weiterhin bestehen. Die politische Krise verschärfte sich zusätzlich im Zuge eines am 21. September abgehaltenen Misstrauensvotums des Repräsentantenhauses – des libyschen Parlaments – gegen die Regierung der Nationalen Einheit. Das Votum war umstritten und wurde von vielen Seiten heftig kritisiert. Einige Abgeordnete gaben an, gegen das Misstrauensvotum gestimmt zu haben, und kritisierten die von den Medien berichteten Zahlen als gefälscht. Manche Gemeinden, vornehmlich im Westen des Landes, stellten sich offen gegen die Abstimmung. Ministerpräsident Abdelhamid Al-Debiba wies das Misstrauensvotum ebenfalls zurück und rief zu Protesten für die Unterstützung der Regierung der Nationalen Einheit auf. In Städten im Westen Libyens gingen Hunderte auf die Straße. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen bestätigte die Regierung der Nationalen Einheit auch nach dem Misstrauensvotum als die legitime Regierung Libyens und forderte das Repräsentantenhaus auf, sich auf die Vorbereitung des verfassungsrechtlichen und legislativen Rahmens für die Wahlen am 24. Dezember zu konzentrieren.

Am 9. September 2021 gab Abdullah Belhaiq, der Sprecher des Obersten Rates, öffentlich bekannt, dass der Oberste Rat das Gesetz über die Präsidentschaftswahlen verabschiedet hat. Am 4. Oktober gab er außerdem bekannt, dass der Oberste Rat das Gesetz über die Parlamentswahlen verabschiedet hat. Eine Reihe von Parlamentarier_innen und anderen Politiker_innen und Beamt_innen merkten an, dass beide Gesetze ungültig seien, da es keine parlamentarische Abstimmung gegeben habe, andere Verfahrensfehler vorlägen und der vom Libyan Political Dialogue Forum gebilligte Fahrplan verletzt worden sei.

Khalifa Haftar steht an der Spitze der Libysch-Arabischen Streitkräfte LAAF, einer bewaffneten Gruppe, die entweder direkt oder über verbündete bewaffnete Gruppen große Teile des Ostens und des Südens Libyens wirksam kontrolliert. Am 22. September 2021 ernannte Khalifa Haftar Abdulrazek al-Nadoori vorübergehend bis zum 24. Dezember 2021 zum Kommandeur der LAAF. Nach einem Artikel des oben genannten Gesetzes über die Präsidentschaftswahlen müssen alle Präsidentschaftskandidat_innen drei Monate vor den Wahlen ihre offiziellen oder militärischen Posten räumen. Khalifa Heftar wurde im März 2015 vom Obersten Rat in das damals neu geschaffene Amt des Kommandanten der LAAF berufen.

Bewaffnete Gruppen und Milizen in ganz Libyen greifen Aktivist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen an. Sie entführen, überwachen, bedrohen, schüchtern ein und morden. So wurde beispielsweise die Anwältin und Aktivistin Hanan al-Barasi am 10. November 2020 am helllichten Tag auf offener Straße in Bengahzi erschossen, nachdem sie die Korruption der LAAF angeprangert und einen der Söhne von Khalifa Hafter kritisiert hatte.

Im Jahr 2021 berichteten mehrere Aktivist_innen Amnesty International, dass sie von Mitgliedern verschiedener Milizen und bewaffneter Gruppen, die entweder mit der libyschen Übergangsregierung der Nationalen Einheit (GNU) oder der LAAF verbunden sind, wegen ihres Engagements im Zusammenhang mit den geplanten Wahlen bedroht wurden. Am 26. September 2021 entführten unbekannte bewaffnete Männer Emad al-Harati, den Vorsitzenden der Nationalen Jugendliga, aus seinem Büro in Tripolis. Am Tag seiner Entführung sowie drei Tage zuvor hatte er öffentlich zu Protesten für die Durchführung der Wahlen aufgerufen.

Amnesty International hat dokumentiert, dass bewaffnete Gruppen, die mit der LAAF verbunden sind, zwischen 2019 und 2021 Angehörige der Magharba, Bewohner_innen in Adschadabiya und Umgebung, entführt haben, weil sie angeblich Ibrahim Jadran, dem ehemaligen Anführer der Petroleum Facilities Guard, einer bewaffneten Gruppe, die mit der LAAF verfeindet ist, angehörten oder ihn unterstützten. Ehemalige Häftlinge berichteten Amnesty International, dass sie während ihrer Haft gefoltert und auf andere Weise misshandelt wurden. Nach Angaben von Einwohner_innen von Ajdabiya beschlagnahmten bewaffnete Männer im Juni 2021 an verschiedenen Verteilerstellen in der Stadt die Exemplare einer Lokalzeitung, die einen Bericht über die Entführung von Mansour Atti enthielt.