Ungewissheit um den Verbleib eines Polizisten

Ein Mann trägt ein rotes T-shirt und einen blauen Turban um den Kopf gewickelt.

Der pakistanische Menschenrechtsverteidiger Seengar Noonari

Der 34-jährige ehemalige tschetschenische Polizist Artur Aydamirov "verschwand" am 8. Juni im belarussischen Brest. Nachdem er Anfang 2018 erfahren hatte, dass er zum Militärdienst in Syrien eingezogen werden soll, hatte er beschlossen, mit seiner Familie aus Tschetschenien zu fliehen. Augenzeug_innen sahen, wie unbekannte uniformierte Männer Artur Aydamirov in einen Lieferwagen zwangen und mit ihm davonfuhren. Seitdem wurde er nicht mehr gesehen und es besteht große Sorge um seinen Verbleib.

Appell an

Innenminister

Igor Anatolievich Shunevich

Gorodskoy Val str. 4

220030 Minsk

BELARUS

Sende eine Kopie an

Botschaft der Republik Belarus
S. E. Herrn Denis Sidorenko
Am Treptower Park 32
12435 Berlin

Fax: 030-5363 5923
E-Mail: germany@mfa.gov.by

 

Amnesty fordert:

  • Bitte leiten Sie umgehend eine Untersuchung zum Schicksal und Verbleib von Artur Aydamirov ein und informieren Sie seine Angehörigen immer vollumfänglich über deren aktuellen Stand. 
  • Sollte sich Artur Aydamirov in staatlichem Gewahrsam befinden, so bitte ich Sie, ihn umgehend freizulassen, oder ihn im Fall glaubwürdiger Beweise für eine nachweisbar strafbare Handlung zur Untersuchungshaft in eine offizielle Hafteinrichtung zu überstellen, unverzüglich anzuklagen und einem unabhängigen Zivilgericht zu übergeben.
  • Stellen Sie sicher, dass Artur Aydamirovs Menschenrechte immer geschützt und respektiert werden, einschließlich – falls er sich in Gewahrsam befindet – des Rechts auf Leben sowie des Rechts auf Freiheit in Bezug auf Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung.

Sachlage

Artur Aydamirov ging am 8. Juni zum Bahnhof in Brest, um Fahrkarten nach Polen zu kaufen. In Polen wollte er dann Asyl beantragen. Angaben seiner Frau zufolge näherten sich ihm dort, laut Zeug_innen, vier Männer in Uniform, legten ihm Handschellen an, zwangen ihn in einen Lieferwagen und fuhren mit ihm davon. Die Familie vermutet, dass er nach Tschetschenien gebracht wurde. Alle Bemühungen von Familienangehörigen, ihn in Tschetschenien zu finden, scheiterten, auch die Suche in Polizeistationen und Leichenhallen blieb erfolglos.

Artur Aydamirov, ein Polizist aus der tschetschenischen Hauptstadt Grozny, wurde während seines Militärdienstes 2014 verletzt. Seiner Frau zufolge beantragte er aufgrund seiner Verletzungen Rente und die Entlassung aus dem Dienst, doch sein Antrag wurde abgelehnt und er blieb bei der Polzei. Anfang dieses Jahres teilten die Vorgesetzten seiner Einheit den Polizist_innen mit, dass sie eingezogen werden sollten, um sich der russischen Militäroperation in Syrien anzuschließen. Artur Aydamirov wurde gesagt, er solle sich darauf vorbereiten, am 1. Juni 2018 nach Syrien aufzubrechen.

Daraufhin reichte er seine Kündigung ein und verließ Tschetschenien zusammen mit seiner Frau und seinen drei Kindern und floh nach Brest an der Grenze zu Polen. Von dort wollte er nach Polen oder in ein anderes Land reisen und dort einen Antrag auf Asyl stellen. Unter den russischen und tschetschenischen Geheimdiensten ist Brest sehr bekannt, da tschetschenische Familien oft dorthin fliehen, um die Grenze zu überqueren und in Polen oder einem anderen Land Asyl zu beantragen. Artur Aydamirov und seine Familie versuchten vor seinem Verschwinden mindestens neunmal, bei den polnischen Grenzposten Dokumente einzureichen, um Asylanträge stellen zu können. Doch ihre Dokumente wurden jedes Mal ohne jede Angabe von Gründen zurückgegeben.

Es ist zu befürchten, dass Artur Aydamirov von den tschetschenischen Behörden an einem unbekannten Ort festgehalten wird und dass seine Sicherheit und sein Wohlergehen ernsthaft gefährdet sind.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Artur Aydamirov ist einer von vielen tschetschenischen Strafverfolgungsbeamten, die berichten, dass sie für den Militärdienst in Syrien eingezogen werden sollen und deshalb nach Brest in Belarus fliehen, um von dort nach Polen zu gelangen und Asyl zu beantragen. Seit seinem Verschwinden unternahm seine Frau mindestens zehn weitere Versuche, die Grenze mit ihren Kindern zu überqueren, wurde aber jedes Mal abgewiesen. Die polnischen Grenzposten weigerten sich schlicht, dem Protokoll zu folgen und den Asylantrag der Familie Aydamirov zuzulassen, auch wenn sie damit gegen die maßgeblichen nationalen und internationalen Verfahrensweisen verstießen. Die Folge war die Zurückweisung der Familie Aydamirov.

Amnesty International hat bereits den Fall eines tschetschenischen Asylbewerbers dokumentiert, der im September 2017 in Brest "verschwand". Es stellte sich heraus, dass er von belarussischen Behörden verhaftet und nach Tschetschenien zurückgebracht wurde. Damit verstießen die Behörden gegen den internationalen Grundsatz der Nichtzurückweisung (Non-Refoulement), nach dem es Staaten verboten ist, Personen in Gebiete zurückzuweisen, in denen ihnen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen drohen. Zudem hat Amnesty International frühere Fälle dokumentiert, in denen tschetschenische Behördenmitarbeiter_innen nach Brest gereist sind, um dort tschetschenische Familien zu schikanieren und einzuschüchtern, auch durch Verschwindenlassen - einem Verbrechen unter dem Völkerrecht.

Das Verschwindenlassen durch Staatsbedienstete ist eine schockierende Menschenrechtsverletzung, die noch immer in Tschetschenien begangen wird. Folter und andere Misshandlungen sind in Tschetschenien sowohl in offiziellen Hafteinrichtungen als auch in rechtswidrigen geheimen Hafteinrichtungen, die von der tschetschenischen Polizei genutzt werden, weit verbreitet. Rechtsmittel, die von Familienangehörigen der Verschwundenen bei der örtlichen Polizei und anderen Behörden eingelegt werden, bleiben stets ohne Erfolg. In den Fällen, in denen die Opfer des Verschwindenlassens "wieder auftauchen", stellt sich oft heraus, dass sie ohne Kontakt zur Außenwelt auf einer Polizeiwache festgehalten wurden. Eine Entschädigung wurde den Opfern nie angeboten und die Täter_innen wurden nie vor Gericht gestellt.

Die polnischen Behörden werden immer häufiger dafür kritisiert, dass sie Asylsuchenden aus Belarus den Zugang zum Asylverfahren verweigern. Am 15. November 2017 verabschiedete das Europäische Parlament mit einer überwältigenden Mehrheit eine Resolution zur "Lage der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie in Polen" in der es feststellte, dass die "Weigerung der polnischen Regierung, ... die einstweiligen Verfügungen des EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) über die Rückführungen nach Belarus zu respektieren, ein sichtbares Symbol dafür ist, dass Polen sich nicht an die EU-Verträge hält". Das Europäische Parlament forderte die polnische Regierung außerdem auf, die Sammelabschiebungen nach Belarus einzustellen, um den verbindlichen einstweiligen Anordnungen des EGMR vom 8. Juni 2017 nachzukommen und um sicherzustellen, dass jede Person, die die Absicht bekundet, an der polnischen Grenze Asyl oder internationalen Schutz zu beantragen, im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen und dem EU-Recht, uneingeschränkten Zugang zum polnischen Asylverfahren erhält.