Anklage wegen Teilnahme an LGBTI Pride

Viele Menschen auf einem Weg zwischen Bäumen mit Regenbogenflaggen

Studierende der ODTÜ in Ankara auf dem Pride March im Mai 2018

18 Studierende und ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara müssen sich ab dem 12. November vor Gericht verantworten: Ihnen wird vorgeworfen, am 10. Mai an der LGBTI Pride Parade auf dem Uni-Campus teilgenommen zu haben. Einige von ihnen streiten dies jedoch ab und gaben an, dass sie nur zugesehen hätten.

Appell an

Justizminister

Abdülhamit Gül

Adalet Bakanlığı

06659 Ankara

TÜRKEI

Sende eine Kopie an

Botschaft der Republik Türkei
S. E. Herrn Ali Kemal Aydin
Tiergartenstr. 19-21

10785 Berlin
Fax: 030-275 90 915
E-Mail: botschaft.berlin@mfa.gov.tr

 

Amnesty fordert:

  • Bitte lassen Sie alle Anklagen gegen die 18 ODTÜ-Studierenden und den wissenschaftlichen Mitarbeiter wegen ihrer angeblichen Teilnahme an der Pride Parade am 10. Mai 2019 fallen. Niemand darf aufgrund der friedlichen Wahrnehmung der Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung strafrechtlich verfolgt werden.
  • Bitte sorgen Sie dafür, dass die unverhältnismäßige Gewaltanwendung durch die Polizist_innen auf dem ODTÜ-Campus umgehend, unabhängig und unparteiisch untersucht wird und dass die Beamt_innen, die sich rechtswidrig verhalten haben, vor Gericht gebracht werden.

Sachlage

18 Studierende und ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Technischen Universität des Nahen Ostens (Orta Doğu Teknik Üniversitesi, ODTÜ) in Ankara müssen sich ab dem 12. November vor Gericht verantworten. Ihnen wird vorgeworfen, am 10. Mai 2019 an der 9. Pride Parade für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen (LGBTI) auf dem Campus der Universität teilgenommen zu haben. In der Anklageschrift, die vom Strafgericht erster Instanz Nr. 39 in Ankara angenommen wurde, heißt es, dass die friedliche Parade eine "rechtswidrige Versammlung" gewesen sei. Allen Neunzehn wird vorgeworfen, "trotz Mahnung nicht auseinandergegangen zu sein" (Paragraf 32 des Versammlungs- und Demonstrationsgesetzes Nr. 2911). Einer der Studierenden ist außerdem nach Paragraf 125 des türkischen Strafgesetzbuchs wegen "Beleidigung" angeklagt, da er gegenüber Polizist_innen "eine als unhöflich geltende Geste" gezeigt haben soll. Ihr Verfahren ist für den 12. November anberaumt. Einige der angeklagten Studierenden gaben an, dass sie nicht am Pride March teilgenommen sondern nur zugesehen hätten.

Am 6. Mai 2019 informierte ODTÜ-Rektor Mustafa Verşan Kök die Studierenden und Mitarbeiter_innen per E-Mail darüber, dass die für den 10. Mai geplante Parade nicht erlaubt sei. Er verwies auf eine Verordnung der Provinzverwaltung Ankara vom 3. Oktober 2018, die ein generelles Verbot aller LGBTI-Veranstaltungen in Ankara vorsieht. Für die Verhängung des Verbots ist keine weitere Begründung nötig. Mit dieser Entscheidung schränkte die ODTÜ-Leitung die Rechte der Studierenden und Uni-Mitarbeiter_innen auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung rechtswidrig ein.

Am 10. Mai hatten sich zahlreiche Studierende auf dem Uni-Campus versammelt, um trotz des Verbots des Rektors, friedlich die LGBTI Pride zu feiern. Doch die ODTÜ-Leitung rief die Polizei, um den Campus räumen zu lassen. Als sich die Studierenden weigerten, auseinanderzugehen, lösten die Polizist_innen ihre Versammlung mit Pfefferspray, Gummigeschossen und Tränengas auf. Dabei gab es mehrere leicht Verletzte. Mindestens 22 Personen wurden festgenommen, darunter auch die Neunzehn, die derzeit strafrechtlich verfolgt werden.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Das unbefristete Verbot aller LGBTI-Veranstaltungen war am 18. November 2017 im Kontext des damals geltenden Ausnahmezustands von der Provinzverwaltung in Ankara verhängt worden. Die Provinzverwaltung begründete diese Entscheidung sehr vage. Es bestünde das Risiko, dass solche Veranstaltungen "Feindseligkeit" hervorrufen oder "in bestimmten Teilen der Gesellschaft aufgrund bestimmter sozialer Empfindlichkeiten eine negative Reaktion auslösen" könnten. Nach dem Ende des Ausnahmezustands im Juli 2018 erließ die Provinzverwaltung von Ankara am 3. Oktober 2018 ein weiteres, ähnliches Verbot.

Die in Ankara ansässigen LGBTI-Organisationen Kaos GL und Pink Life klagten unabhängig voneinander gegen das Verbot. Das unbefristete pauschale Verbot aller LGBTI-Veranstaltungen sei im Ausnahmezustand verhängt worden und verstoße gegen die Meinungs-, Versammlungs - und Vereinigungsfreiheit. Nachdem die Klage zunächst erstinstanzlich abgelehnt wurde, hob am 19. April 2019 ein Verwaltungsgericht in Ankara das pauschale Verbot aller LGBTI-Veranstaltungen in der türkischen Hauptstadt endgültig auf. Das Gericht stufte das Pauschalverbot selbst unter dem Ausnahmezustand als verfassungswidrig ein. Die ODTÜ-Leitung berief sich jedoch auf die zweite Verbotsentscheidung durch die Provinzregierung von Ankara vom 3. Oktober 2018, um den Polizeieinsatz auf dem ODTÜ-Campus am 10. Mai 2019 auszulösen.

Hypothetische Risiken stellen keinen legitimen Grund dar, um eine friedliche Versammlung zu verbieten. Die Grundsätze der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit erfordern die Berücksichtigung aller relevanten Umstände, der Auswirkungen auf das geschützte legitime Anliegen und der Wahrscheinlichkeit, dass sich das Risiko konkretisiert, bzw. die Frage, ob weniger restriktive Mittel ausreichen würden. Staaten – und ihre Sicherheitskräfte – haben die Verpflichtung, die Wahrnehmung des Rechts auf friedliche Versammlung zu erleichtern und die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten.

Die 18 ODTÜ-Studierenden und der wissenschaftliche Mitarbeiter sind nach dem Versammlungs- und Demonstrationsgesetz Nr. 2911 angeklagt. Dieses Gesetz mit seinem restriktiven Charakter wird in der Türkei häufig willkürlich angewendet, um die Bevölkerung an der Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu hindern.

Doch Staaten haben die positive Verpflichtung, die Wahrnehmung des Rechts auf friedliche Versammlung in Gesetz und Praxis zu erleichtern. Auch nach türkischem Recht ist die Ausübung des Rechts auf Versammlungsfreiheit nicht an eine Genehmigung durch die Regierungsbehörden gebunden. Die Versammlungsfreiheit ist durch das Völkerrecht, internationale Standards und Konventionen geschützt, von denen auch die Türkei Vertragsstaat ist. Jede Entscheidung zur Auflösung einer Versammlung sollte nur als letztes Mittel und im Einklang mit den Grundsätzen der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit getroffen werden.