Amnesty Journal Deutschland 25. Juli 2016

"Wie ist es im Dschungel?"

"Wie ist es im Dschungel?"

Der Rassismus ist das Problem. Drei persönliche Erfahrungen

Junge Frauen mit Kopftuch, schwarze Kinder und schwule Roma: Sie verbindet wenig miteinander, und doch machen sie ähnliche Erfahrungen in Deutschland.

*Samira B., 20 Jahre alt, Solingen
Abiturientin und Mitglied beim Anti-Diskriminierungs­projekt "Nicht in meinem Namen"**
"Meine Eltern hatten es mir überlassen, ob ich das Kopftuch ­trage. Vor einiger Zeit habe ich mich intensiv damit beschäftigt und entschieden: Ja, ich will. In der Schule hatte ich niemandem davon erzählt, ich kam einfach damit an. Meine Freunde reagierten super, freuten sich für mich und fragten erst Wochen später, warum ich mich so entschieden hatte. Die Lehrer waren skeptisch. Einer sagte, wir hätten doch keinen Karneval.
Meine Entscheidung für das Kopftuch fiel in eine Zeit, in der sich in Deutschland der Umgangston gegenüber 'Fremden' verschärfte. Kurz nach dem Anschlag auf 'Charlie Hebdo' wurden meiner Mutter auf offener Straße Prügel angedroht. Seitdem wird es immer schlimmer. Mit Kopftuch ist man schnell Zielscheibe. Für mich ist es ein positives Symbol, durch das ich ein neues Körpergefühl und mehr Selbstbewusstsein bekommen habe. Doch nach außen erscheint es vielen als Provokation.
Die Kinder, mit denen ich beim Bundesfreiwilligendienst in einer Schule arbeite, gehen alle ganz selbstverständlich mit mir um. Es sind die Eltern, die Probleme haben. Kürzlich haben Eltern, mit denen die Sozialarbeiterin und ich zu einem Gespräch verabredet waren, vorab geschrieben, wie problematisch sie meine Anwesenheit an der Schule finden und gefragt, wie eine kopftuchtragende Muslima Vorbild für ihre Kinder sein könne. Leider hatte mich niemand zuvor darüber informiert. Eine Stunde saß ich mit dem Vater im Raum, der mich keines Blickes würdigte und mir zum Abschluss nicht einmal die Hand gab.
Es wird viel darüber gesprochen, dass Muslima deutschen Männern nicht die Hand geben dürfen. Anscheinend ist es genau andersrum. Der Vorfall hat mich auch deshalb sehr verletzt, weil er von den Mitarbeitern der Schule kaum ernstgenommen wurde. "Warum hast Du ihm nicht selbst die Hand gegeben?", haben sie gefragt. Das fand ich scheinheilig. Mit offener, aggressiver Diskriminierung kann ich besser umgehen: Ich schreite ein und wenn mein Gegenüber aggressiv wird, gehe ich. Gesprächsbereit scheinen gegenwärtig nicht mehr viele. Es interessiert sie nicht, dass so viele wie ich mit ihren Familien in zweiter, dritter oder vierter Generation in Deutschland leben; dass meine marokkanische Mutter bereits als Kind hierher kam. Und dass die Aggressionen, die uns entgegenschlagen, das Klima nachhaltig vergiften können. Ich möchte Sozialarbeiterin werden – weil ich das Gefühl habe, dass junge Menschen uns noch viel genauer zuhören: Egal wie wir aussehen."

*Name geändert

Tupoka Ogette, 36 Jahre alt, Berlin
Expertin für Anti-Diskriminierung
"Die ersten acht Jahre meines Lebens habe ich in Leipzig verbracht. Als schwarze Deutsche habe ich mich nicht weniger sächsisch gefühlt als alle anderen. Nur mein Umfeld hat mir immer wieder deutlich gespiegelt, dass es mich als jemand Fremdes wahrnimmt. 'Wann gehst du eigentlich wieder nach Hause, wie ist es überhaupt im Dschungel?' Wenn man solche Fragen als Kind oft genug hört, glaubt man irgendwann selbst daran, nicht in die eigene Heimat zu passen. Als ich neun war, nahm meine Mutter mich mit nach Tansania, in die Heimat meines Vaters. Ich hatte mir eine Art Ankommen von der Reise versprochen, aber dort galt ich als Weiße. Mittlerweile bin ich im Reinen mit meiner Identität, doch das Thema holte mich ein, als ich mit meinen Kindern nach ein paar Jahren in Frankreich zurück nach Deutschland zog. Sofort tauchten die Fragen wieder auf: 'Wo kommt ihr her, was wollt ihr hier?' Mein Sohn kam aus der Kita und sagte: 'Ich will nicht mehr so braun sein, das ist hässlich.' In dem Moment wusste ich, dass etwas passieren muss. Ich wollte die Wut darüber, was dreißig Jahre nach meinen Kindheitserfahrungen noch immer passierte, kanalisieren.
Ich hatte nicht geplant, Anti-Rassismus-Expertin zu werden. Als ich die ersten Kurse anbot, gab es ein riesiges Interesse: Vor allem von weißen Eltern, die ein schwarzes Kind adoptiert haben. Diese Paare freuen sich meist so sehr auf ihr Kind, dass sie alle möglichen Probleme zunächst ausblenden. Ist das Kind dann da, sehen die Eltern die Welt auf einmal aus einer Perspektive, die sie erschreckt. Ich bekomme Anrufe von Müttern, die erzählen, ihre Kinder hätten Angst vor anderen schwarzen Menschen, weil sie selbst nicht so aussehen wollen. Und von Vätern, deren Kinder teils nicht mehr leben wollen, weil ihre Ausgrenzungserfahrungen so extrem sind. Mir ist es deshalb besonders wichtig, diese Kinder zu ermutigen und zu aktivieren mit 'Empowerment'-Trainings, die ich anbiete. Aber auch pädagogische Einrichtungen, die sich zu Inklusionsarbeit fortbilden müssen, buchen mich. Meist stoße ich dort auf die Haltung: Rassismus gibt es hier nicht. Dann erkläre ich, dass es das Phänomen fast überall gibt – nur möglicherweise nicht aus der Perspektive der Erzieherinnen und Erzieher oder Lehrerinnen und Lehrer.
In Deutschland ist das Wort Rassismus derart moralisch belegt, dass es kaum Spielraum für Diskussionen darüber gibt. Für mich war es unglaublich prägend, zu begreifen, dass es kein individuelles Problem ist, sondern unsere Gesellschaft von rassistischen Einstellungen durchzogen ist. Das will ich Kindern vermitteln: Nicht ihr seid das Problem, sondern der Rassismus."

Gianni Jovanovic, 38 Jahre alt, Köln
Aktivist und Initiator von "Queer Roma"
"Mit Mitte 20 hatte ich mein Coming-Out und war auf schwierige Reaktionen gefasst. Aber letztlich ist man doch nie vorbereitet. Mein Vater war furchtbar aufgebracht, meine Mutter fiel auf der Stelle in Ohnmacht. Ihnen zuliebe habe ich mich zu einem Arzt schleifen lassen. Auch der konnte ihnen nichts anderes sagen, als dass mit mir alles bestens in Ordnung ist. Doch wie sollten sie das verstehen? Sie sind einfache Roma und leben in einer Community mit teils noch immer extrem konservativen Werten. Homosexualität gibt es bei uns nicht, so die Haltung der meisten. Ich wusste, dass das nicht stimmt und dass mit mir 'alles in Ordnung ist'. Weil man die Strukturen aber verinnerlicht, in denen man aufwächst, habe ich mich gefügt: Mit 14 habe ich geheiratet, mit 16 wurde ich das erste Mal Vater, mit 18 das zweite Mal. Ich hatte damals keine Kraft, meinem Umfeld zu erzählen, wer ich wirklich bin. Ausgrenzung kannte ich schon auf ­anderer Ebene, ich brauchte meine Community als Halt.
Mit antiziganistischem Rassismus bin ich groß geworden. Ich habe eine Narbe an der Stirn, weil unsere Unterkunft in den achtziger Jahren mit Molotowcocktails beworfen wurde. Als Rom bist du in Deutschland heute noch Außenseiter. 80 bis 90 Prozent unserer Kinder werden auf Sonderschulen geschickt. Viele leugnen ihre kulturelle Identität, um nicht anzuecken. Auch meine Enkel werden in der Kita gehänselt. Diese Ausgrenzung kennen in der Community alle. Mein Anderssein aber verstehen auch die meisten Roma nicht: Es gibt rigide Vorstellungen von Männlichkeit, Rollenverhalten und Sexualität.
Mit 23 lernte ich einen Mann kennen, der meine große Liebe wurde. Er gab mir die Kraft, mein Doppelleben zu beenden. Mit der Zeit habe ich immer mehr Schwule, Lesben und Transmenschen aus der Roma-Community kennengelernt, darunter viele, die noch nicht bereit sind, ihre Identität öffentlich zu machen. Auch ihretwegen habe ich meinen Verein 'Queer Roma' gegründet. Nach Workshops bedankten sich euphorisierte Teilnehmer und warnten mich davor, dass ich durch mein öffentliches Coming-Out von allen Seiten stigmatisiert werden würde. Gerade auch intellektuelle und politisch aktive Roma sind erstaunlich homophob. Und die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft sieht hinter meiner Vielschichtigkeit meist auch nur den Rom. Ich will ein Bewusstsein jenseits dieser Zuschreibungen schaffen. Meine Familie hat mich inzwischen akzeptiert wie ich bin. Jetzt ist die Gesellschaft dran."

Protokolle: Elisabeth Wellershaus

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