Amnesty Journal Indien 24. Februar 2020

Wer nicht mitsingt, gehört nicht dazu

Eine große Gruppe von Demonstranten steht dicht gedrängt und hält Schilder in die Höhe.

Ausgrenzung und Gewalt gegen Muslime sind mit dem ­Aufstieg der Nationalisten in Indien salonfähig geworden.

Von Rose Weissman, Mumbai

Kein Bart, keine Kurta, keine Gebetsmütze. "Ich versuche, westlich auszusehen", sagt Azeef Shaikh* und zupft nervös an der Knopfleiste seines blauen Hemdes. Shaikh ist 35 Jahre alt, gläubiger Muslim – und er verzichtet auf sichtbare Zeichen seines Glaubens. Auch hier, im wohlhabendsten Bezirk des liberalen Mumbais, wo der nächste Matcha-Latte immer nur einen Steinwurf entfernt zu haben ist, will der junge Mann nicht auffallen. Azeef Shaikh hat Angst.

Der Lektor stammt aus Odisha, einem Bundesstaat im Nordosten Indiens. Um seine Familie zu besuchen, muss Shaikh tagelang im Zug das Land durchqueren. Für Touristen eine aufregende Reise, für Muslime ein Spießrutenlauf. "Die Stimmung in den übervollen Abteilen kann schnell kippen", erzählt Azeef Shaikh. Herablassende Kommentare und Belästigungen sind für muslimische Zugreisende längst Alltag in Indien, hinzu kommt die Furcht vor Gewalt. "Ich buche immer die teureren Abteile, weil dort die Chance geringer ist, angegriffen zu werden", sagt Shaikh. "Meine Schwägerin trägt Burka, und ich habe bei jeder ihrer Reisen Angst um sie."

Immer wieder kommt es in den Überlandzügen zu brutalen Übergriffen: Im September 2019 wurde eine muslimische Familie an einem Bahnhof im Bundesstaat Uttar Pradesh von einem etwa 30-köpfigen Mob angegriffen und schwer verletzt. Kurz zuvor war ein 26-jähriger Lehrer in West-Bengalen verprügelt und aus dem fahrenden Zug geworfen worden. Er hatte sich geweigert, einen religiösen Hindu-Gesang mitanzustimmen: "Jai Shri Ram", ein Loblied auf den Gott Ram. Als Schüler hatte Shaikh noch voller Inbrunst mitgesungen, heute würde ihm das Lied nicht mehr über die Lippen kommen. Wie ihm geht es vielen Muslimen. Aber: Wer nicht mitsingt, gilt vielen Hindus heute als Feind.

Die Regierungspartei setzt auf "Hindus first"

Ein Lied als Symptom für die sich immer stärker spaltende Gesellschaft der größten Demokratie der Welt. Fälle von religiös motivierten Morden und Übergriffen nehmen in Indien stetig zu. Zwischen Mai 2015 und Dezember 2018 wurden dabei mindestens 44 Menschen getötet. Die häufigsten Opfer: Muslime. Wie hoch die Zahl der Übergriffe genau ist, lässt sich nicht feststellen. Die Regierung veröffentlicht die Kriminalitätsstatistik zudem mit jahrelanger Verzögerung.

Hindus first. Darauf setzt die Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) immer stärker. Das ist längst auch bei Azeef Shaikh im westlichen Mumbai angekommen, auch in jenen reichen Vierteln, in denen die Villen der Bollywood-Stars die Uferpromenade säumen. "Die Angst drückt dich nieder, sie kriecht dir unter die Haut", sagt er und fährt sich dabei über die Unterarme, wie um sich zu wärmen.

Staatsgewalt gegen Studierende

Wenn sich die Muslime gegen die Repressionen wehren, reagieren die Behörden mit voller Härte. Videos vom Dezember 2019 zeigen die Jamia Millia Islamia-Universität in Delhi kurz nach der Erstürmung durch die Polizei. Junge Menschen kauern blutend in der Bibliothek, fliehen panisch aus den Gebäuden, verstecken sich vor den Beamten in den Büschen. Die dramatischen Szenen zeigen den Niedergang einer indischen Kardinaltugend: dem friedlichen Miteinander unterschiedlicher Meinungen in einer multireligiösen Demokratie.

Zuvor hatten die Studierenden auf dem Campus gegen ein Gesetz protestiert, das es muslimischen Flüchtlingen erschweren soll, die indische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Ein Affront, finden auch Säkulare und Liberale. Die Polizei attackierte die Studenten mit Stöcken und Tränengas, laut Zeugen auch mit Schusswaffen.

Größte Minderheit im Land: 180 Millionen Muslime

Schnell weiteten sich die Proteste aus, Zehntausende gingen im Dezember und Januar in ganz Indien auf die Straße. Mindestens 27 Menschen starben bei Auseinandersetzungen mit der Polizei, Tausende wurden festgenommen. Um die Angst vor diesem Gesetz, die Bestürzung der Muslime, das Vorgehen der Polizei zu begreifen, muss man über die aktuellen Nachrichten hinaus blicken – auf jenen Riss, der die Gesellschaft seit Jahrzehnten spaltet: Das Verhältnis der hinduistischen Mehrheit zur größten Minderheit im Land, den Muslimen.

Diese "Minderheit" besteht aus 180 Millionen Menschen, die nach Indonesien größte muslimische Bevölkerungsgruppe der Welt. Dennoch machen sie auf dem Subkontinent nur rund 14 Prozent der Bevölkerung aus. Seit 2014, als die BJP an die Macht kam, hat sich ihr Status deutlich verschlechtert. Die rechtskonservative Partei verspricht wirtschaftlichen Aufschwung, resolutes Vorgehen gegen die Korruption und die Stärkung der hinduistischen Prägung des Landes. Ihre sogenannte Hindutva-Bewegung ist eine Mischung aus Nationalismus und Hinduismus – politischer Sprengstoff in einem multireligiösen Land.

Wer etwas gegen Hassverbrechen tun will, bekommt Streit mit ganz oben. Als der Chefredakteur der Hindustan Times, Bobby Ghosh, 2017 eine Online-Datenbank namens "Hate-Tracker" ins Leben rief, bei der Leser Übergriffe melden konnten, hatte das direkte Folgen. Schon nach kurzer Zeit kam es zu einer Unterredung zwischen Premierminister Narendra Modi und dem Eigentümer der Zeitung. Am folgenden Tag musste Ghosh seinen Posten räumen. Das Projekt wurde eingestellt.

Vertrauen der Muslime in den Staat schwindet

Enttäuscht reagierten viele Muslime auch auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom November vergangenen Jahres, den Hindus ein seit Jahrzehnten umstrittenes Gelände in Ayodhya im Norden des Landes zuzusprechen. Hier hatte seit dem 16. Jahrhundert eine Moschee gestanden, bis diese 1992 von radikalen Hindus zerstört worden war. Viele Beobachter sahen in der Entscheidung eine Bestätigung des Vorgehens der Hindu-Nationalisten – mit weitreichenden Folgen: Das Vertrauen der indischen Muslime und der liberalen Opposition in die staatlichen Institutionen schwindet.

Regierung setzt auf Eskalation

Auch die Sprache verroht. Premier Modi vergleicht muslimische Opfer von Gewalt mit "Hunden", der Ministerpräsident von Uttar Pradesh droht demonstrierenden Muslimen mit "Rache". Nicht nur rhetorisch setzt die Regierung auf Eskalation. Im August vergangenen Jahres hob sie den Sonderstatus der von Indien verwalteten und vor allem von Muslimen bewohnten Region Kaschmir im äußersten Norden des Landes auf. Sonderrechte wie eine eigene Verfassung und die Garantie der Autonomie waren von einem Tag auf den anderen hinfällig. Die Regierung schickte Tausende zusätzliche Soldaten in die Region, verhängte eine Ausgangssperre, schaltete Telekommunikation und Internet ab und verhaftete politische Anführer. Mehr als sieben Millionen Kaschmiris waren monatelang von der Außenwelt abgeschnitten.

Volkszählung mit verheerenden Folgen

Während in Kaschmir nun Millionen Menschen die indische Staatsbürgerschaft aufgezwungen wird, passiert im östlichen Bundesstaat Assam das Gegenteil. Dort führte die Regierung eine Volkszählung durch – mit verheerenden Auswirkungen: 1,9 Millionen Menschen sollen die Bürgerrechte aberkannt werden. Hindus, Sikhs, Jains, Buddhisten und Christen hätten nichts zu befürchten, erklärte Innenminister Amith Shah im Oktober, sie alle würden dank eines neuen Gesetzes automatisch ein Bleiberecht erhalten und müssten das Land nicht verlassen. Explizit nicht Teil dieser Gruppe: Muslime.

Später fügte Shah hinzu, er wolle "selektiv alle Eindringlinge ausschalten – und diese Aufgabe wird die BJP vor 2024 umsetzen". Zielscheibe erneut: die Muslime. Bereits 2018 hatte Shah, der auch Chef der Regierungspartei BJP ist, gegen "Eindringlinge" gehetzt, die Indiens Zukunft "wegessen" würden und verglich sie mit Termiten. Konkret meinte er Einwanderer aus dem armen Nachbarland Bangladesch. Aus der Regierungspartei werden nun immer wieder Stimmen laut, das sogenannte Nationale Bürgerregister auf das ganze Land auszuweiten – mit Folgen wie in Assam. Entsprechend groß ist die Angst in der muslimischen Gemeinde.

Vergabe der Staatsbürgerschaft an Religion knüpfen

Denn hier kommt schon die Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes vom Dezember 2019 zum Tragen, das auch die blutigen Proteste in der Jamia Millia Islamia-Universität auslöste. Indien will damit die Vergabe der Staatsbürgerschaft an die Religionszugehörigkeit knüpfen. Muslimischen Einwanderern aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan würde damit der Zugang zum indischen Pass erschwert. Muslimen, denen bei einer aktuellen oder kommenden Volkszählung die Bürgerschaft aberkannt wird, hätten dann kaum mehr Chancen auf Wiedereinbürgerung.

"Die indische Regierung leugnet jede Form von Diskriminierung, aber das neue Staatsbürgerschaftsgesetz macht Volkszählungen eindeutig zu einer Waffe gegen Muslime", erklärt der Geschäftsführer von Amnesty Indien, Avinash Kumar. Die Situation sei besorgniserregend und habe "das Potenzial, die größte Krise Staatenloser weltweit auszulösen", fürchtet Kumar. Auch die Vereinten Nationen bezeichneten das neue Gesetz als "fundamental diskriminierend".

In Najid Khans* Alltag ist diese Problematik noch nicht angekommen. Ja, auch in seiner Heimat Mumbai fanden Proteste statt, auch er war im Dezember auf der Straße. Doch Khan ist ein erfolgreicher Immobilienmakler, gut ausgebildet, exzellent vernetzt. Für ihn ist die Diskriminierung bisher nur eine Drohung. Ein Gefühl der Enge, das nicht von der zwangsläufig gedrängten Lebensweise in der 22-Millionen-Metropole herrührt.

Der 31-Jährige fährt mit seinem Motorroller durch die engen Gassen des Viertels Andheri, er ist auf dem Weg zu einem Geschäftstermin. Es ist heiß und feucht, die Luft in der Stadt riecht nach Holzkohlefeuer. Das Arabische Meer befindet sich hinter den Häuserreihen, zu hören ist aber nur das Rauschen der Stadt. Najid Khan ist hier aufgewachsen, im Schatten der Hochhäuser stehen kleine Häuschen, begehrte Immobilien in der in die Höhe wachsenden Metropole. Khan will ein Apartment besichtigen. "In Mumbai musst du schnell sein, wenn du mitschwimmen willst", sagt er, während er seinen Roller am Straßenrand parkt. Najid Khan ist groß und muskulös, um seine Augen liegt ein dunkler Schatten. "Unsere Geschäfte laufen gut. Ich weiß aber nicht, wie lange das noch so weitergeht", sagt er. Der Grund: Najid Khan ist Muslim, sein Geschäftspartner Hindu-Nationalist.

Kampf um seine Freundschaft

Die beiden sind Freunde seit ihrer Kindheit, in einem Viertel aufgewachsen, gemeinsam zur Schule gegangen. Ihre Herkunft habe nie eine Rolle gespielt, sagt Khan, beide seien nicht religiös. "Und dann hat er 2014 die Hindu-Nationalisten gewählt, eine Partei, deren Mitglieder Muslime öffentlich mit Insekten vergleichen, die man aus dem Land treiben müsse", ärgert sich Khan. "Das war ein Schock für mich." Sein Geschäftspartner sagt, die BJP stärke die Wirtschaft. Khan sagt, jetzt, wo die indische Ökonomie schwächele, machten die Hindu-Nationalisten auch mit der Angst vor Muslimen Stimmung.

Najid Khan kämpft um seine Freundschaft, aber auch die Geschäftsbeziehung ist für ihn wichtig: Vor kurzem wollten die beiden eine neue Wohnung mieten, alle Details waren geklärt, die Verträge lagen schon bereit. Da sah der Vermieter den muslimischen Nachnamen Khans – und ließ den Deal platzen. In vielen indischen Wohnungsannoncen steht unverblümt: "Keine Muslime".

"Mein Freund sagte damals: `Vergiss es, das war ein Rassist, wir suchen eine neue Wohnung.´ Dass diese Leute aber von der Regierung bestärkt werden und dass das mein Leben jeden Tag schwerer macht, will er nicht sehen", meint Khan. Sein Geschäftspartner sei noch immer ein enger Freund. Aber Khan weiß nicht, wie lange er noch Energie für die Auseinandersetzung mit ihm hat: "Streiten oder Aufgeben, beides bricht mir das Herz."

Kein Verlass mehr auf den Rechtsstaat

Sowohl der Geschäftsmann Khan als auch der Lektor Shaikh sagen, dass sie sich noch relativ sicher fühlen, dass es die armen Muslime in den ländlichen Gegenden seien, die dem Hass schutzlos ausgeliefert sind. Wenn die Gewalt zu ihnen nach Mumbai käme, glaubt keiner von ihnen an die Hilfe der Polizei – zu oft schon hat die Staatsmacht die Minderheit im Stich gelassen. Bei den Protesten der vergangenen Monate waren stets Polizisten an Übergriffen beteiligt. Eine aktuelle Umfrage belegt, dass jeder dritte indische Polizist Gewalt angemessen findet. Wer glaubt noch an den Rechtsstaat, wenn es selbst die Beamten des Staates nicht mehr tun?

Während Najid Khan noch hofft, Jugendfreundschaft und Geschäftsbeziehung retten zu können, ist bei Azeef Shaikh die Angst längst in Wut umgeschlagen. "Ich glaube nicht mehr an ein friedliches Morgen hier", sagt Shaikh. Er will nur noch weg aus Indien und woanders eine Zukunft für sich und seine Familie aufbauen.

* Namen von der Redaktion geändert

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