Amnesty Journal 10. Februar 2021

Impfgerechtigkeit – für alle

Eine Geldbörse liegt aufgeklappt auf der Seite; statt Münzen ist sie mit Pillen und Tabletten gefüllt, die teilweise herausgefallen sind.

Unnötige Verknappung: Patentinhaber entscheiden, wer Medikamente produziert.

Corona-Impfstoffe sind teuer. Doch das muss nicht sein. Jörg Schaaber von der BUKO Pharma-Kampagne im Interview über Impfgerechtigkeit und bezahlbaren Schutz für alle.

Interview: Lea De Gregorio

Bedeutet Impfgerechtigkeit, dass reiche Länder zurückstecken müssen?

Am Anfang ist der Impfstoff knapp. Und natürlich müssen manche Personengruppen warten. Wir müssen aber beachten, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark gefährdet sind. Für ältere Menschen ist das Virus viel gefährlicher als für jüngere. Und für bestimmte Berufsgruppen, wie zum Beispiel medizinisches Personal oder Pflegepersonal in Heimen, ist eine Impfung besonders wichtig. Erst einmal sollten diese Gruppen überall auf der Welt versorgt werden. Es geht nicht, dass wir in den reichen Ländern Privilegien in Anspruch nehmen, die wir anderen nicht gewähren.

Wie ließe sich Impfgerechtigkeit herstellen?

Die wichtige Frage ist, wie viel Impfstoff überhaupt zur Verfügung steht. Das ist ein wichtiger Punkt, über den zu wenig geredet wird. Es ist ja nicht so, dass alle Fabriken, die technisch dazu in der Lage wären, die Impfstoffe auch herstellen dürfen. Die Patentinhaber entscheiden, wer sie produziert, und das führt zu einer unnötigen Verknappung von Impfstoffen.

Amnesty International fordert, den Patentschutz für Corona-Impfstoffe zu lockern. Würde das die größten Probleme aus der Welt schaffen?

Das ist ein wichtiger Schritt. Er würde ermöglichen, dass Impfstoffe auch von anderen Fabriken hergestellt werden können. Der zweite Punkt ist aber der Technologietransfer. Einige Impfstoffe werden nach traditionellen Prinzipien hergestellt. Aber bei mRNA-Impfstoffen ist die Herstellung anders, da ist auch Technologietransfer wichtig. Auf der anderen Seite braucht man für den Aufbau einer solchen Produktion keine so riesigen Kapitalsummen und keine so langen Vorlaufzeiten wie für die traditionelle Impfstoffherstellung.

Ein Mann mit grauem halblangen Haar trägt einen schwarzen Pullover und blickt frontal in die Kamera.

Soziologe und Gesundheitswissenschaftler Jörg Schaaber

Costa Rica hat vorgeschlagen, einen Patentpool für Covid-19-Produkte aufzubauen.

Der Vorschlag von Costa Rica umfasst nicht nur das Aussetzen der Patentpflicht, sondern schließt auch den Technologietransfer ein. Es geht darum, in unterschiedlichen Teilen der Welt Kapazitäten aufzubauen. Denn es kann nicht sein, dass arme Länder bei der Produktion von reichen Ländern abhängig bleiben. Ein Patentpool kann sehr erfolgreich sein, um ärmeren Menschen Zugang zu wichtigen Arzneimitteln zu verschaffen. Das zeigt das Beispiel HIV. Der Patentpool hat dazu beigetragen, dass heute rund zwei Drittel aller HIV-Positiven, die eine Behandlung brauchen, die auch bekommen. Das sah vor zehn Jahren noch ganz anders aus.

Ein Patentpool würde genügen?

Es geht auch um Geld. Man sollte nicht unterschätzen, wie günstig man Arzneimittel und Impfstoffe herstellen kann, wenn man keine übergroßen Gewinne erzielen will. Sicherlich gibt es noch nicht in allen Ländern die erforderlichen Produktionsmöglichkeiten. Aber in Indien oder Thailand ist die Pharmaindustrie relativ gut entwickelt und kann auch für andere arme Länder günstig produzieren. Nur ein Beispiel: Die Behandlung einer Person mit HIV kostet mit patentgeschützten Medikamenten ungefähr 10.000 US-Dollar im Jahr – mit generisch hergestellten Produkten 150.

Es geht nicht, dass wir in den reichen Ländern Privilegien in Anspruch nehmen, die wir anderen nicht gewähren.

Jörg
Schaaber
Soziologe und Gesundheitswissenschaftler

Die WHO versucht, mit dem Programm Covax eine faire Verteilung des Impfstoffes sicherzustellen. Was ist davon zu halten?

Es ist ein Versuch, wenigstens die gröbsten Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Die Menge der Impfdosen, die Covax bisher zugesagt wurden, ist aber viel zu gering, um die Menschen im globalen Süden zu versorgen. Zudem handelt es sich vielfach nur um Versprechen, nicht um bereits existierende Dosen. Es ist außerdem völlig undurchsichtig, welche Preise für Impfstoffe gezahlt werden. Die reichen Länder stecken Milliarden Euro in Covax, und es ist grundsätzlich gut, dass sie bereit sind, etwas abzugeben. Aber wenn für die Impfdosen zu viel gezahlt wird, führt das zur Verknappung und letztlich zu mehr Profit für große Pharmafirmen.

Ihre Kritik ist, dass große Konzerne unterstützt werden.

Ja, das ist die Gefahr. Es ist intransparent, denn es wird zwar gesagt, wie viel Geld Covax zugutekommt, die Preise für die Impfdosen sind aber nur teilweise bekannt. Dass es um viel Geld geht, kann man daran sehen, dass die Aktienkurse der meisten Impfstoffhersteller rasant steigen.

Und das Geld treibt die Forschung voran?

Bei Corona werden enorme Anstrengungen unternommen, um Medikamente zu entwickeln, allerdings erst als deutlich wurde, dass viele Menschen betroffen sind – auch in reichen Ländern. Bei anderen Krankheiten sieht das völlig anders aus. So sterben zum Beispiel jedes Jahr weltweit 1,5 Millionen Menschen an Tuberkulose, obwohl man die Krankheit behandeln kann. Aber die jüngsten Medikamente für die Standardbehandlung sind über 50 Jahre alt. Dazu wird kaum geforscht, weil Tuberkulose fast ausschließlich ärmere Länder betrifft und keine großen Gewinne verspricht.

Jörg Schaaber ist Soziologe und Gesundheitswissenschaftler. Er arbeitet für die BUKO Pharma-Kampagne. Das Bündnis befasst sich mit den Schattenseiten der globalen Arzneimittelversorgung.

Lea De Gregorio ist Volontärin des Amnesty Journals. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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