Amnesty Journal 14. Juni 2023

Mutig und solidarisch bleiben!

Das Bild zeigt einen Zug im Hintergrund, davor Kinder und Jugendliche mit Taschen

Geflüchtete aus der Ukraine kommen am Bahnhof der ungarischen Stadt Zahony an (8. März 2022).

Immer mehr Menschen sind auf der Flucht. Die Europäische Union schottet sich ab. Dabei zeigt die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge, wie Solidarität aussehen kann. Eine engagierte Zivilgesellschaft ist unerlässlich, um einen Flüchtlingsschutz für alle zu sichern. Ein Kommentar.

von Miriam Heine

"Wo auch immer ihr herkommt, wusstet ihr nicht, dass wir euch töten, wenn ihr hierherkommt?" An diese Worte des lettischen Grenzschutzes erinnert sich ein Mann aus dem Irak. Ein anderer Mann berichtet: "Sie schlugen meinen ganzen Körper (…). Sie sagten, wenn du nicht zurückgehen willst, schlagen wir dich so stark, dass wir dich zwingen."

Ein Amnesty-Bericht aus dem Jahr 2022 dokumentiert, dass beide Männer an der lettisch-belarussischen Grenze ­sogenannte Pushbacks erlebten und was sie dabei zu hören bekamen. Als Pushbacks bezeichnet man das gewaltsame Zurückdrängen Flüchtender an den Grenzen ohne ernsthafte Prüfung der Fluchtgründe.

Pushbacks als Regelfall

Gleich vier Berichte zum Thema Flucht veröffentlichte Amnesty im Jahr 2022. Sie belegen, dass an den EU-Außengrenzen in Polen, Lettland, Litauen und der spanischen Exklave Melilla Pushbacks zum Regelfall geworden sind. Weder die Bundesregierung noch die EU-Kommission als Hüterin der EU-Verträge unternahmen etwas dagegen.

Dabei verstößt diese brutale Praxis an der EU-Außengrenze gegen geltendes Recht. Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention verbietet die Abschiebung oder Ausweisung in ein Land, in dem Verfolgung oder Folter drohen. Dieses Non-Refoulement-Gebot findet sich auch in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Ein Hoffnungsschimmer war im Dezember 2022, dass die sogenannte EU-Instrumentalisierungsverordnung vorläufig verhindert werden konnte. Mit der Verordnung sollte auf Situationen der "Instrumentalisierung" von Geflüchteten reagiert werden, wie sie der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko herbeiführte. In solchen unbestimmten Fällen sah sie die Schließung von Grenzübergängen und die Absenkung von Unterbringungsstandards vor. Das vorläufige Scheitern der Verordnung war auch dem unermüdlichen Einsatz von Amnesty International und anderen Akteur*innen der Zivilgesellschaft zu verdanken.

Was derzeit fehlt, ist der politische Wille, allen Menschen gleichberechtigt Schutz zu bieten, unabhängig vom Herkunftsland.

Dass die Europäische Union solidarisch und schnell Sicherheit gewähren kann, zeigt die Aufnahme der Menschen, die vor dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine geflohen sind. Dank einer EU-Richtlinie erhielten bislang fast fünf Millionen Ukrainer*innen vorübergehenden Schutz in den Mitgliedstaaten – ohne kompliziertes Asylverfahren, verpflichtende Wohnsitzauflage und jahrelanges Warten auf Aufenthaltstitel und Arbeitserlaubnis.

Was derzeit fehlt, ist der politische Wille, allen Menschen gleichberechtigt Schutz zu bieten, unabhängig vom Herkunftsland. Dabei wären ein entschlossenes Handeln zur Unterstützung Geflüchteter und die Bekräftigung des Rechts auf Asyl nötiger denn je: 2022 waren weltweit mehr als 103 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie nie zuvor. Trotzdem werden Zäune gebaut, asylfeindliche Gesetze verabschiedet und Ressentiments gegen Geflüchtete geschürt.

Dies zeigt Wirkung: 2022 wurden 1.200 Angriffe auf Geflüchtete und 121 Angriffe auf Unterkünfte bekannt – ein Anstieg um 73 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und der neu ernannte Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Migrationsabkommen, Joachim Stamp (FDP), gießt Öl ins Feuer, wenn er erneut und als erstes die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes propagiert.

Auch der Migrationspakt, der derzeit im EU-Parlament diskutiert wird, birgt weitere Einschränkungen von Menschenrechten Geflüchteter. Angesichts der Bedrohungen für das Menschenrecht auf Asyl gilt es auf jeden Fall, mutig zu bleiben. Gegen Abschottung und Gewalt an den EU-Außengrenzen braucht es eine starke Zivilgesellschaft, damit Europa endlich ein Garant für die Menschenrechte aller wird.

Miriam Heine war von Februar bis April 2023 Rechtsreferendarin bei Amnesty International Deutschland.

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