Amnesty Journal 01. Januar 2020

Bis es sich zu leben lohnt

Demonstranten heben ihre Arme, während ihnen Wasser entgegen spritzt.

Zu wenig, um zu leben, zu viel, um zu sterben: Die Proteste in Lateinamerika werden befeuert von sozialer Ungleichheit – und der Brutalität der Sicherheitskräfte.

Von Wolf-Dieter Vogel, Mexiko-Stadt

Erst Venezuela, dann Ecuador, Chile, Bolivien und zuletzt auch noch Kolumbien – Südamerika kam 2019 nicht zur Ruhe. Demonstranten zogen mit Trommeln und Kochtöpfen durch die Straßen, Barrikaden brannten, Jugendliche lieferten sich Schlachten mit der Polizei, hochgerüstete Beamte gingen gewaltsam gegen die Rebellierenden vor. Längst handelt es sich bei den Protesten nicht mehr nur um ein kurzfristiges Aufbäumen gegen ungerechte Sozialprogramme oder korrupte Politiker. Von einem "südamerikanischen Frühling" ist die Rede, und tatsächlich haben die Bewegungen das Potenzial, verkrustete, autoritäre Strukturen aufzubrechen und Machtverhältnisse infrage zu stellen. Ob dies aber am Ende zu mehr sozialer Gerechtigkeit, demokratischeren Verhältnissen und einer Stärkung der Menschenrechte führen wird, ist nicht ausgemacht.

Die Anlässe, die die Menschen auf die Straße treiben, gleichen sich. In Ecuador führte im Oktober die Ankündigung von Präsident Lenín Moreno, die Benzinsubventionen zu streichen, zu landesweiten Protesten. Der Staatschef wollte damit die Auflagen des Internationalen Währungsfonds für einen 4,2 Milliarden-Dollar-Kredit erfüllen. Transportunternehmer, Gewerkschafter, Studenten und Indigene gingen auf die Barrikaden. Moreno rief den Ausnahmezustand aus, bei heftigen Kämpfen zwischen der Polizei und Demonstranten starben mehrere Menschen. Als die indigenen Gemeinden des kampfstarken Dach­verbands CONAIE aus dem ganzen Land nach Quito zogen und die Hauptstadt mit Blockaden stilllegten, nahm Moreno die Streichungen zurück.

Gesundheit nur gegen Geld

Zur gleichen Zeit begannen in Santiago de Chile Proteste von Schülerinnen und Schülern gegen die Erhöhung der U-Bahnpreise um 30 Pesos (ca. 3 Cent). Schnell weiteten sich die Aktionen aus und richteten sich auch gegen den konservativen Präsidenten und Unternehmer Sebastian Piñera. Bis zu eine Million Menschen gingen gegen soziale und wirtschaftliche Ungleichheit auf die Straße. Die 30 Pesos waren der Anlass der Proteste, die Ursachen der Ungleichheit reichen jedoch bis in die Diktatur Augusto Pinochets zurück, während der Chile zum Vorzeige­modell einer neoliberalen Ökonomie wurde.

Nicht nur die arme Bevölkerung, sondern auch die Mittelschicht leidet an der Privatisierung des Bildungs-, Renten- und Gesundheitswesens. Nur wer viel Geld hat, kann sich eine gute medizinische Versorgung leisten. Und das sind nur wenige Menschen. Die Mehrheit verdient höchstens 500 US-Dollar im Monat, und damit zu wenig, um die teuren Mieten oder Universitätsgebühren zu bezahlen.

Auch Piñera musste dem Druck nachgeben, versprach höhere Renten und Löhne. Zudem sollen die Chileninnen und Chilenen über eine neue Verfassung abstimmen, die jene aus der Pinochet-Zeit ersetzen soll, mit der sich der Staat seiner sozialen Verantwortung entzogen hat.

Doch die Proteste gehen weiter, und das ist wenig verwunderlich. Denn die Brutalität, mit der die Sicherheitskräfte vorgingen, werden die Demonstranten so schnell nicht vergessen. Auch Piñera rief den Ausnahmezustand aus und mobilisierte fast 10.000 Polizisten und Soldaten. 20 Menschen kamen ums Leben, Hunderte wurden durch Gummi- und Tränengasgeschosse schwer verletzt. Für Erika Guevara Rosas, Amerika-Expertin von Amnesty International, steht hinter dem Einsatz der Sicherheitskräfte eine bewusste Strategie: "Die Demonstranten werden verletzt, um den Protesten den Anreiz zu nehmen, und das sogar mit extremen Mitteln wie Folterungen und sexueller Gewalt."

Polizei und Paramilitärs greifen hart durch

Doch selbst Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte konnten die Proteste in Lateinamerika bislang kaum eindämmen. In Venezuela und Nicaragua mit ihren linken Regierungen gibt es heftige Kritik an den Einsätzen von Polizisten und paramilitärischen Gruppen. Im rechts regierten Kolumbien wurde der Schüler Dylan Cruz, der durch eine Tränengasgranate getötet wurde, zum Symbol des Widerstands. Bei den Protesten dort geht es um die Forderung, den Friedensvertrag mit den ehemaligen FARC-Guerilleros umzusetzen, aber auch um die soziale Lage: Gewerkschafter, Indigene und Linke kämpfen gegen eine geplante Renten- und Arbeitsreform. Und wie in Ecuador und Chile zwang auch in Kolumbien der Druck der Straße die Regierung zum Einlenken. Die Proteste hätten das Land verändert, stellt Fabio Arias fest, Generalsekretär der großen Gewerkschaft CUT: "Die Agenda der Regierung steht infrage."

 

Mehrere Menschen demonstrieren, rufen Slogans

 

Drei Staaten, in denen die außerparlamentarische Opposition Erfolge erzielte. Die Kämpfe können jederzeit auf andere Länder des Kontinents übergreifen. Denn wie in Ecuador oder Chile herrscht auch in Argentinien, Peru oder Brasilien eine extreme Kluft zwischen Arm und Reich, und viele südamerikanische Staaten befinden sich in einer Krise, die diese Ungleichheit noch weiter verschärft. Sie leiden darunter, dass die Rohstoffpreise eingebrochen sind. So ist das Kupfer, das Chile in großen Mengen exportiert, derzeit 30 Prozent weniger wert als 2011. Der Preis des Erdöls, von dem Venezuela abhängt, sank um 40 Prozent, und der Exporterlös für das in Brasilien und Argentinien massenhaft angebaute Soja ist ein Drittel geringer als zu Beginn des Jahrzehnts.

Anfang der 2000er Jahre hatten der chinesische Wirtschaftsboom und Aufschwünge in Europa und den USA für eine hohe Nachfrage nach Erzen, Öl und Agrarprodukten gesorgt. Die Preise stiegen, und lateinamerikanische Politiker aller Couleur setzten, wie schon seit kolonialen Zeiten, auf die rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Dieser sogenannte Extraktivismus spülte viel Geld in die Staatskassen, belebte die Märkte, schuf neue Konsumenten und Spielraum für Sozialprogramme.

Linke Regierungschefs wie der Venezolaner Hugo Chávez nutzten die Einnahmen, um Gesundheitszentren und Stadtteil- oder Arbeitskooperativen zu unterstützen. Der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" basierte auf dem Verkauf des Erdöls: 96 Prozent der Devisen kamen dadurch ins Land. Auch in anderen Staaten weckte der Boom Hoffnungen: Nach Angaben der UN-Wirtschaftskommission Cepal sank die Zahl der extrem Armen in ­Lateinamerika zwischen 2001 und 2011 von 19,3 auf 11,3 Prozent.

Die Krise trifft nicht nur die Armen

Doch seit die Weltwirtschaft kränkelt, offenbaren sich die Fehler, die in diesen florierenden Zeiten gemacht wurden. Anstatt in nachhaltige Entwicklung zu investieren, orientierten sich staatliche Ausgaben häufig an populistischen Interessen. Ob in Brasilien oder Venezuela, viel Geld verschwand und verschwindet weiterhin in korrupten Kanälen. Zugleich müssen die Regierungen Kredite zurückbezahlen, die während des Aufschwungs aufgenommen wurden. Die Ungleichheit hat zugenommen, und die Zahl der Armen steigt wieder. Nach Angaben von Cepal leben derzeit 72 Millionen Menschen in Lateinamerika in extremer Armut, 2014 waren es 46 Millionen.

Die Demonstrationen, Streiks und Blockaden haben sich angesichts dieser Entwicklung zwar verschärft, sind aber auch nicht neu. Schon lange wehren sich indigene Gemeinschaften gegen das extraktivistische Modell, weil die Ausbeutung der ­natürlichen Ressourcen ihre Lebensgrundlage zerstört. Und es waren nicht zuletzt die Verlierer der wirtschaftsliberalen Politik, die Ausgeschlossenen und Armen, die vor mehr als 20 Jahren dazu beitrugen, dass mit Chávez ein linker Militär Präsident ­Venezuelas wurde.

Dennoch trifft die aktuelle Krise Arbeiterinnen in Caracas ebenso wie Mittelschichtstudenten in Santiago de Chile. Angesichts fehlender Devisen ist von den venezolanischen Sozialprogrammen nichts geblieben, und auch dort sind in diesem Jahr Zehntausende gegen das Regime auf die Straße gegangen. Der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" konnte mit dem Abschwung ebenso wenig umgehen wie die neoliberalen Regimes. Im Gegenteil: Die fehlenden Petrodollars führten in Venezuela zu einer nie dagewesenen humanitären Krise. Das Gesundheits­system brach zusammen, vier Millionen Menschen verließen das Land. Amnesty wirft dem Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro willkürliche Festnahmen, außergerichtliche Hinrichtungen und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit vor.

Die Rechten profitieren vom Volksaufstand

Auch in Bolivien trieb das autokratische, repressive Verhalten der Regierung die Menschen auf die Barrikaden. Schon lange bevor der linke, indigene Präsident Evo Morales im November mit einer wahrscheinlich gefälschten Wahl seine Macht erhalten wollte (siehe Seite 34), hatte er bereits zahlreiche Anhänger gegen sich aufgebracht. Viele waren empört, weil er 2016 mit Hilfe des ihm ergebenen Verfassungsgerichts die Möglichkeit einer Wiederwahl erzwang, obwohl sich die Mehrheit in einem Referendum dagegen ausgesprochen hatte. Auch das Vorgehen des Präsidenten gegen Indigene, die sich einem Autobahnprojekt im Regenwald widersetzten, ließ seine Anhänger auf Distanz gehen.

 

Brennende Barrikaden, Demonstrierende mit Mundschutz und Helm auf einer Straßenkreuzung

 

Nach Ansicht des uruguayischen Theoretikers Raúl Zibechi haben die systematischen Attacken der Regierung gegen die ­Basisbewegungen zur politischen Krise in Bolivien geführt. Und nachdem Morales unter dem Druck des Militärs ins Exil nach Mexiko ging, "konnten die Ultrarechten diesen Volksaufstand für sich nutzen".

Dass nach der Flucht des Präsidenten ultrarechte Kräfte die Macht übernahmen, wird die Polarisierung verschärfen. Übergangspräsidentin Jeanine Áñez hielt im Regierungspalast eine Bibel in die Höhe, während ihre Anhänger auf den Straßen ­Wiphala-Fahnen, das Zeichen des plurinationalen indigenen Staats, verbrannten. Soldaten, "die an Operationen zur Wiederherstellung der Ordnung teilnehmen", sind per Dekret von jeglicher strafrechtlicher Verfolgung ausgeschlossen – ein Freibrief für Massaker, wie Morales zurecht aus der Ferne kritisierte.

Sollte die Rechte in Bolivien an der Regierung bleiben, wäre das ein schwerer Rückschritt für die Emanzipation der Indigenen und die Menschenrechte. Doch haben nicht zuletzt die Ureinwohner Ecuadors bewiesen, welche Kraft ihre autonome Organisation entfalten kann, um die Regierung in ihre Schranken zu weisen. So wie die außerparlamentarischen Proteste in Chile Politiker zum Handeln zwangen. Unabhängig davon, wer die ­Regierung stellt, wird das Ringen um soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte in Lateinamerika weitergehen, "bis es sich zu leben lohnt". So haben es chilenische Aktivisten auf zahlreiche Häuserwände geschrieben.

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