Aktuell Blog Griechenland 16. August 2019

Am Rande Europas zählt die Menschenwürde wenig

Ein Weg führt zu einer verschlossenen Eisentür, daneben Zäune und Stacheldraht, im Hintergrund bergige Landschaft

Der Eingang zum Flüchtlingslager auf Samos, Griechenland, August 2019

Im Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Samos leben Schutzsuchende während ihres Asylverfahrens in Zelten – mit mangelhafter Versorgung und eingeschränktem Zugang zu Schulbildung und Medizin. Lea Rösner arbeitet für die Refugee Law Clinic Berlin auf Samos und setzt sich täglich mit der Situation der Menschen vor Ort auseinander.  



Im Jahr 2016 haben die europäischen Staats- und Regierungschef_innen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan den sogenannten EU-Türkei-Deal beschlossen. Sie entschieden damit nicht nur, dass die Türkei ein sicherer Drittstaat sein soll und Asylsuchende dorthin zurückgeschickt werden können. Sie begründeten auch das sogenannte Hotspot-Konzept. Die meisten Asylsuchenden dürfen demnach die fünf griechischen Inseln Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos für die Dauer ihres Asylverfahrens nicht verlassen. 

Heute, drei Jahre später, scheint die Situation auf den Inseln in Vergessenheit geraten zu sein. Dabei sind allein in diesem Jahr bereits rund 18.000 Menschen auf den griechischen Inseln angekommen. Das Camp auf der Insel Samos ist für 650 Personen ausgelegt – derzeit leben dort jedoch etwa 4.000 Personen in überfüllten Containern und Zelten. 

Ein Mann und Kind vor Zelten, dahinter eine Küstenlandschaft

Das Flüchtlingslager auf Samos, Griechenland, August 2019

Externe Beobachter_innen haben normalerweise keinen Zutritt; es sollen keine Bilder an die Öffentlichkeit gelangen. Die Sanitäreinrichtungen sind völlig unzureichend und außerdem verdreckt und kaputt. Viele Menschen leben nicht in den Containern, sondern im sogenannten Dschungel. Er ist um das eigentliche Camp herum entstanden und besteht aus Zelten, die sich die Menschen selbst gekauft haben, sowie aus selbst gebauten und mit Planen abgedeckten Hütten. Die Bewohner_innen teilen sich ihr Zuhause mit Ratten und Schlangen. Essen gibt es dreimal am Tag. Das Frühstück besteht aus kaum mehr als einem trockenen Brötchen. Tag für Tag stehen die Menschen stundenlang an, um an Essen zu kommen – das nicht für alle reicht. 

Auch das Asylverfahren ist äußerst kritikwürdig. Die Tatsache, dass die Türkei als sicherer Drittstaat gelten soll, scheint blanker Hohn – und zwar nicht erst seit die Regierung vor einigen Wochen beschloss, viele Menschen nach Syrien in Kriegsgebiete abzuschieben. So ist es Asylsuchenden oft nicht möglich, einen Asylantrag in der Türkei zu stellen. Die türkische Polizei hindert Menschen außerdem zunehmend daran, mit Booten nach Griechenland überzusetzen. Sie inhaftiert sie stattdessen – oftmals für mehrere Stunden, Tage oder Wochen.

Auf Samos werden derzeit Termine für Anhörungen im Asylverfahren für die Jahre 2020 und 2021 vergeben. Diese können jedoch immer wieder auf einen früheren oder späteren Zeitpunkt verlegt werden. Bis zu einer Entscheidung über die Anträge vergehen wiederum Monate. So lange warten die Menschen in ihren Zelten.            

Wilder Müllhaufen, davor eine tote Ratte

Menschenunwürdige Zustände im Flüchtlingslager auf Samos, Griechenland, August 2019

Menschen mit Familienmitgliedern in anderen EU-Staaten haben teils Anspruch auf eine Familienzusammenführung unter der Dublin-III-Verordnung. Ansonsten ist eine Einstufung als "vulnerable Person" die einzige Möglichkeit, die Insel früher zu verlassen. Dann ist es vorgesehen, dass man das Asylverfahren auf dem griechischen Festland durchläuft. Entscheidungen hinsichtlich einer Vulnerabilität werden jedoch sehr restriktiv getroffen. Zudem warten sogenannte vulnerable Personen oft monatelang auf einen Transfer Richtung Festland. Hochschwangere Frauen, schwer kranke oder traumatisierte Personen harren weiterhin auf der Insel aus. 

"Müsste ich mich selbst verletzen, um Samos verlassen zu dürfen?", wurde ich hier bereits gefragt. Überhaupt mache das ganze System keinen Sinn. "Wir sind doch alle vulnerabel", höre ich oft. Und das stimmt zweifelsohne. Wer in seinem Heimatland möglicherweise Bürgerkrieg, Verfolgung, Folter oder ähnliches erlebt hat – oder sexuelle Gewalt auf der Flucht, wer Europa in einem Schlauchboot erreicht hat, sollte nicht für Monate oder Jahre im sogenannten Dschungel von Samos festgehalten werden. 

Vor allem die Tatsache, dass es in dem Camp nur einen Arzt gibt, der die "Vulnerabilität" der Menschen feststellt, macht das System absurd. Es gibt weiterhin lediglich zwei Psycholog_innen im Camp – und das obwohl viele der 4.000 Menschen psychologische Behandlung benötigen. Wenn sie diese nicht zum Zeitpunkt ihrer Ankunft brauchen, dann möglicherweise nachdem sie ein Jahr warten mussten und derweil jede Nacht Ratten verscheuchten. Ein Bekannter von mir hat an dem Tag, an dem ich diese Zeilen schreibe, versucht, Selbstmord zu begehen. Medizinische Versorgung, die ihm helfen könnte, gibt es kaum.

"Warum respektiert Griechenland die Menschenrechte nicht?", ist eine Frage, die mir Asylsuchende immer wieder stellen und die ich nicht beantworten kann. Amnesty International kritisiert den EU-Türkei-Deal sowie die unmenschlichen Bedingungen in den Camps schon lange und fordert die Beendigung des "Hotspot-Konzepts". Schutzsuchende sollten grundsätzlich nicht als Zahlen heruntergerechnet, sondern als Individuen wahrgenommen werden. Ihnen müsste mit Würde begegnet und ein selbstbestimmtes Handeln ermöglicht werden. Ebendies sollte für alle Menschen gelten, die ihr Land verlassen und dabei nicht die Privilegien eines europäischen Passes genießen. Der "Hotspot" auf Samos hingegen zeichnet weiterhin das Bild einer Europäischen Union, an deren Grenzen die Menschenwürde nicht viel zählt.

"Niemand will hierbleiben", sagt Leila K. Viele Menschen hier hätten Familie in anderen Teilen Europas. "Lasst doch die Leute einfach zu ihren Familien gehen und in Frieden leben", sagt die 22-jährige Afghanin. Hierbleiben wolle keiner. "Warum zwingt ihr uns?"

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