Aktuell Deutschland 14. Juni 2018

"Dafür ist das neue Dagegen"

Tag der offenen Gesellschaft am 16. Juni 2018
Porträtfoto von Harald Welzer

Am Samstag findet der Tag der offenen Gesellschaft statt – ein Bürgerfest für die Demokratie, an Hunderten bunt bedeckten Tafeln im ganzen Land. Amnesty als Organisation, "die die große Erzählung von Freiheit und Menschenrechten praktisch umsetzt", sei prädestiniert für die Teilnahme, sagt der Soziologe und Mitgründer der Initiative Offene Gesellschaft, Harald Welzer.

Wen erwarten Sie am 16. Juni an Ihren Tafeln der offenen Gesellschaft?

Ich wünsche mir alle dort zu sehen, denen die liberale Demokratie und unser Rechtsstaat am Herzen liegen.

Das heißt, konservative, liberale und sozialistische Freiheitliche, oder wie lässt sich das politisch fassen?


All die, die sich dem Grundgesetz verpflichtet fühlen, völlig egal, welcher Partei sie zugehörig sind – mit Ausnahme natürlich der rechten und neurechten Parteien.

2017 waren es 20.000 Menschen, die sich an Ihren Tafeln zusammenfanden. Rechnen Sie damit, dass es dieses Jahr mehr werden?


Aber selbstverständlich. Vergangenes Jahr hatten wir 400 öffentliche Tafeln, und ich denke, das wird 2018 übertroffen werden.

Im Mai waren Zehntausende in Berlin gegen die AfD auf den Straßen unterwegs – Techno-Freaks, linke Politniks und besorgte Bürger. Ist das auch das Publikum der offenen Gesellschaft?

Auf jeden Fall. Schließlich handelt es sich bei diesen öffentlichen Tafeln oder Dinners um eine niedrigschwellige Angelegenheit, wenn Sie so mögen. Insofern reicht das Spektrum sicherlich von Menschen aus der Clubszene bis hin zu an Demokratie und Menschenrechten Interessierten.

Was kann Amnesty International für die offene Gesellschaft tun?


Amnesty ist als Organisation, die die große Erzählung von Freiheit und Menschenrechten praktisch umsetzt, prädestiniert für den Tag der offenen Gesellschaft. Das ist ja der Tag, an dem die Idee der Teilhabe und der Zugehörigkeit praktisch wird.

Was will der Tag der offenen Gesellschaft aus ideologischer Sicht erreichen?


Das ideologische Moment lässt sich in dem Slogan fassen: "Dafür ist das neue Dagegen." Dabei geht es darum, die zivilisatorischen Errungenschaften der offenen Gesellschaft zu verteidigen und zu bewahren, um in diesem Rahmen Modernisierungsprozesse überhaupt erst ermöglichen zu können. Jenseits dessen sind uns ideologische Differenzen zunächst egal, immer unter der Voraussetzung, dass man sich auf die Verteidigung der Demokratie einigt.

Wie lange wollen Sie diese Tafeln ausrichten?


Wir wollen den Tag der offenen Gesellschaft als Feiertag etablieren. Wenn das gelingen sollte, wäre schon ziemlich viel gewonnen.

Wieviele Menschen bräuchte es, um eine kritische Masse zu bilden, die der neuen Rechten etwas entgegensetzt?


Super Frage, nein, im Ernst: Eigentlich bräuchte es vier Fünftel der Bevölkerung. Nach allem, was wir wissen, ist das die Anzahl, die auf dem Boden des Grundgesetzes steht und der offenen Gesellschaft freundlich gegenübersteht. Idealerweise müsste man entsprechend 60 Millionen mobilisieren – aber leider wissen wir, dass es dazu nicht kommen wird. Daher geht es darum, dass in jedem größeren Ort eine solche Tafel stattfindet.

"Saftloses liberales, saturiertes Bürgertum" sei da am Start, hieß es in manchen Artikeln über den Tag der offenen Gesellschaft 2017. Schließt die Veranstaltung untere Schichten aus?


Das ist dieselbe routinisierte Vorwurfsnummer, die beispielsweise "Pulse of Europe" getroffen hat. Auch das waren angeblich Bürger, die nur ihren Sonntagsspaziergang absolvierten. Ich kann diese übliche Schlaumeierei nicht mehr hören. Die, die ihren Arsch nie hochkriegen, sind dafür wahnsinnig gut darin, Argumente gegen Engagierte zu finden. Das geht mir auf den Keks.

Lässt sich das Milieu derer, die sich da zusammentun, dennoch genauer bestimmen?


Es ist so divers wie die Veranstalter, die daran teilnehmen. Dazu zählen Nachbarschaften, dazu zählen Firmen, dazu zählen Theater. Ein buntes Spektrum, das nichts ausschließt, aber auch keine dezidierte soziologische Zusammensetzung der Durchschnittsgesellschaft anstreben kann.

Warum sollten wir am 16. Juni mit Wein, Baguettes und Käse zur Tafel kommen?


Es war noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik notwendiger zu zeigen, dass man die Demokratie und die offene Gesellschaft verteidigen möchte. Außerdem macht es wahnsinnig viel Spaß, das hat der vergangenen Sommer gezeigt: Je nachdem, wohin man geht, spielen dort Bands oder es gibt Lesungen. Unser Prinzip ist ja nicht, moralische Versammlungen einzuberufen, sondern mit guter Laune am Start zu sein.

Die Zäsur sehen Sie im Flüchtlingssommer 2015, dessen Instrumentalisierung und dem Einzug der AfD in den Bundestag?


Formell ja. Doch das eigentliche Problem besteht darin, dass Teile der etablierten Parteien das Programm der rechten Parteien in die Mitte der Gesellschaft tragen, namentlich die CSU. Sie spielt in dieser Hinsicht eine ganz katastrophale Rolle, aber auch Angehörige anderer Parteien, wie Christian Linder von der FDP oder Sahra Wagenknecht von der Linken. Das ist die eigentliche Katastrophe. Die AfD ist es eigentlich gar nicht wert, dass man große Aktionen gegen sie macht. Sie würde historisch wahrscheinlich ohnehin verschwinden. Das Problem ist die Transformation der Mentalitäten.

Worin besteht der Unterschied zur militanten rechtsextremen Formierung Anfang der 1990er Jahre – in Rostock, Hoyerswerda oder Solingen?


Anders als damals drehen sich politische Fragestellungen heute noch stärker um den Konnex zwischen Flüchtlingen und Zuwanderung einerseits sowie Sicherheit andererseits. Die Debatte um den Bamf-Skandal etwa suggeriert, dass es sich dabei um das derzeit größte Problem der Republik handele. Und keine Zeitung macht mehr ohne Flüchtlingsthema auf. Das alles zeigt: Je mehr der Rechten entgegengekommen wird, umso mehr gewinnt sie auch.

Interview: Markus Bickel

 

Wir wollen den Tag der offenen Gesellschaft als Feiertag etablieren.

Harald
Welzer

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