Blog 09. März 2015

Damit sich in Russland der Frühling nicht in den Winter verwandelt

Boris Nemtsov Gedenkmarsch

In der Zeit nach dem Mord an Boris Nemtsov wurde mir klar, dass in Russland ein neues Zeitalter angebrochen ist. Ein Zeitalter, in dem ein dreister Mord an einem Anführer von Protesten möglich ist; ein Zeitalter, in dem alles möglich ist. Und obwohl es scheint, dass wir in dieses Zeitalter über Nacht eingetreten sind, hat sich das Umfeld der Intoleranz gegenüber jeder Art von Dissens schon über mehrere Jahre angestaut.

Eine alles durchdringende Kultur der Straflosigkeit, das Fehlen des politischem Willens, all diejenigen zu identifizieren und vor Gericht zu stellen, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind, haben erheblich zur Schaffung dieser Atmosphäre beigetragen. Wir erleben tagtäglich ein exponentielles Wachstum an Schmierenpropaganda in den staatlichen Medien und eine Flut von Beleidigungen gegen all jene, deren Meinung sich von der Kreml-Linie unterscheidet.

Vor seinem Tod hatte Boris Nemtsov eine Protestdemonstration für den 1. März geplant – den ersten Tag des Frühlings – daher wurde sie "Frühlingsmarsch" genannt. Die Organisatoren, darunter bekannte Oppositionsführer, wollten die Kundgebung im Zentrum von Moskau stattfinden lassen, waren aber gezwungen worden nachzugeben und sie in den Außenbezirken der Stadt abzuhalten. Die Menschen waren nicht glücklich darüber, und man ging von einer niedrigen Beteiligung aus.

Trauernde legen Blumen an der Stelle in der Nähe des Kremls nieder, an der Boris Nemtsov getötet wurde.

Aber all das hat sich über Nacht geändert. Am Samstag, den 28. Februar erhielt ich um 4 Uhr morgens eine ungewöhnliche E-Mail von einer unbekannten Person, die mich total erschüttert hat. Sie lautete: "Boris Nemtsov wurde in Moskau getötet." Boris, ein ehemaliger Vizeministerpräsident in Jelzins Kabinett, wurde am Vorabend der von ihm organisierten Protestveranstaltung ermordet?

Ich hatte keinen Zweifel, es war wahr.

Trotz anfänglicher Weigerung der Behörden in Moskau, die Demonstration in der Innenstadt zu genehmigen, setzte sich der gesunde Menschenverstand durch.

Fünfzigtausend Moskowiter gingen langsam über die Brücke in der Nähe des Kreml, auf der Boris von vier Kugeln niedergestreckt wurde, vorbei an der Stelle, wo er getötet wurde. Die Demonstranten hielten Tausende von russischen Flaggen mit schwarzen Bändern, und sie legten Blumen auf der ganzen Länge des Brückengeländers nieder. Überall waren Plakate mit Fotos von Boris zu sehen.

Ich sehe eine tragische Symbolik in der Tötung eines der aktivsten Verfechter der Freiheit in Russland auf derselben Brücke, auf der sieben Direktoren von europäischen Sektionen von Amnesty International vor einem Jahr friedlich für die Versammlungsfreiheit demonstriert hatten.

Mehrere Direktorinnen von europäischen Sektionen von Amnesty International demonstrieren im Januar 2014 für die Versammlungsfreiheit auf der gleichen Moskauer Brücke, auf der Boris Nemtsov mehr als ein Jahr später getötet wurde.

Dies ist ein sehr deprimierender Tag für alle, die Boris’ Werte geteilt haben. Die Zukunft wird zeigen, ob die Menschen in Russland bereit sind, eine solche Gesellschaft zu tolerieren, in der abweichende Stimmen von Killern zum Schweigen gebracht werden.
   (Sergei Nikitin, Direktor der Moskauer Büros von Amnesty International)

 

Aber es ist ermutigend, dass es immer noch Leute gibt, die keine Angst haben – viele Tausende von Menschen, die sich nicht scheuten, vor dem Kreml in stillem Protest über die Brücke zu gehen; die sich nicht scheuen, für die Menschenrechte einzutreten – trotz der hysterischen Anschuldigungen, sie seien "ausländische Agenten", Spione und Verräter; die keine Angst davor haben, in Blogs, Artikeln und Interviews in den wenigen überlebenden unabhängigen Medien die Machthaber mit der Wahrheit zu konfrontieren.

Sie alle wissen, dass mit diesem Frühling eine Saison begonnen hat, in der es leicht passieren kann, dass man für die Äußerung der eigenen Meinung angegriffen oder sogar getötet wird. Die mutigen Menschen in Russland mögen für ein so großes Land immer noch eine kleine Minderheit sein. Aber allein die Tatsache, dass es sie gibt, und ihr Enthusiasmus, Charisma und Selbstvertrauen geben mir in diesen dunklen Tagen Hoffnung. Russland wird frei sein; die Frage ist nur, wann und zu welchem ​​Preis? Die Alternative ist, dass der Frühling sich sofort in den Winter verwandelt.

Sergei Nikitin, Leiter des Moskauer Büros von Amnesty International

Übersetzt von Klaus H. Walter

Dieser Text ist zuerst auf dem Blog von Amnesty.org erschienen

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