Iran: Haftstrafen für Doppelstaatsbürger_innen

Zwei Portraitfotos wurden zusammengeschnitten. Auf dem linken ist ein Mann mit einer Halbglatze und einem grauen Schnurrbart und rechts ist eine Frau mit grau-schwarzen Haaren, roten Lippen und Brille, die auf einem antiken Stuhl sitzt.

Die im Iran inhaftierten gewaltlosen politischen Gefangenen Mehran Raoof und Nahid Taghavi

Nahid Taghavi, deutsch-iranische Staatsbürgerin, und Mehran Raoof, britisch-iranischer Staatsbürger, werden seit dem 16. Oktober 2020 willkürlich im Teheraner Evin-Gefängnis festgehalten, nur weil sie friedlich ihre Menschenrechte wahrgenommen haben. Im August 2021 verurteilte sie ein Revolutionsgericht nach einem äußerst unfairen Verfahren wegen Anklagen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit zu zehn Jahren und acht Monaten Haft. Nahid Taghavi leidet unter chronischen Rückenschmerzen und benötigt dringend eine Operation an der Wirbelsäule, die ihr jedoch verweigert wird. Beide sind gewaltlose politische Gefangene und müssen umgehend und bedingungslos freigelassen werden.

Appell an

Gholamhossein Mohseni Ejei

c/o Embassy of Iran to the European Union

Avenue Franklin Roosevelt 15

1050 Brüssel

BELGIEN

Dein Appell

Sehr geehrter Herr Gholamhossein Mohseni Ejei,

Nahid Taghavi, deutsch-iranische Staatsbürgerin, 67-jährig, und Mehran Raoof, britisch-iranischer Staatsbürger, 64-jährig, werden seit dem 16. Oktober 2020 willkürlich im Teheraner Evin-Gefängnis festgehalten, nur weil sie friedlich ihre Menschenrechte wahrgenommen haben. Im August 2021 verurteilte sie ein Revolutionsgericht nach einem äußerst unfairen Verfahren wegen Anklagen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit zu zehn Jahren und acht Monaten Haft. Nahid Taghavi leidet unter chronischen Rückenschmerzen und benötigt dringend eine Operation an der Wirbelsäule, die ihr jedoch verweigert wird.

Ich fordere Sie auf, Mehran Raoof und Nahid Taghavi unverzüglich und bedingungslos freizulassen, da sie gewaltlose politische Gefangene sind, die lediglich aufgrund der friedlichen Wahrnehmung ihrer Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit inhaftiert sind. Stellen Sie sicher, dass sie bis zu ihrer Freilassung angemessene medizinische Versorgung erhalten und für Behandlungen, die im Gefängnis nicht möglich sind, in externe Einrichtungen verlegt werden. Sorgen Sie bitte auch dafür, dass sie regelmäßig Zugang zu einem Rechtsbeistand ihrer Wahl und zu ihrer Familie erhalten und dass ihnen Zugang zu konsularischem Beistand gewährt wird.

Mit freundlichen Grüßen

Sende eine Kopie an

Botschaft der Islamischen Republik Iran

S. E. Herrn Mahmoud Farazandeh

Podbielskiallee 65-67

14195 Berlin


Fax: 030 83 222 91 33

E-Mail: info@iranbotschaft.de

Amnesty fordert:

Sachlage

Die 67-jährige Nahid Taghavi und der 64-jährige Mehran Raoof, beide gewaltlose politische Gefangene mit doppelter Staatsangehörigkeit, verbüßen im Teheraner Evin-Gefängnis ungerechtfertigte Haftstrafen, weil sie friedlich von ihren Rechten auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit Gebrauch gemacht und sich unter anderem für die Rechte von Arbeitnehmer_innen und Frauen eingesetzt hatten. Am 4. August 2021 verurteilte die Abteilung 26 des Teheraner Revolutionsgerichts sie zu zehn Jahren und acht Monaten Gefängnis, weil sie angeblich "eine Gruppe von mehr als zwei Personen gegründet haben in der Absicht, die nationale Sicherheit zu gefährden" und wegen "Verbreitung von Propaganda gegen das System". Die Vorwürfe beziehen sich offensichtlich auf einen Social-Media-Account, auf dem über Frauenrechte gepostet wird. Beide wiesen alle Anschuldigungen zurück. Ihre Verfahren entsprachen bei Weitem nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren: Ihnen wurden die Rechte auf eine angemessene Verteidigung und auf Kontakt mit ihren Rechtsbeiständen bis zur ersten Verhandlung am 28. April verweigert. Mehran Raoof durfte seinen Rechtsbeistand während des gesamten Verfahrens nicht sehen und traf ihn nur während der Anhörungen.

Nach ihrer willkürlichen Festnahme im Oktober 2020 wurden Nahid Taghavi und Mehran Raoof unter Verstoß gegen das absolute Verbot von Folter und anderen Misshandlungen in verlängerter Einzelhaft gehalten. Während dieser Zeit wurden sie wiederholt in Abwesenheit ihrer Rechtsbeistände Befragungen unterzogen und dabei unter Druck gesetzt. Die Tochter von Nahid Taghavi sagte, die Verhörenden hätten ihrer Mutter "Verstöße gegen die nationale Sicherheit" vorgeworfen, nur weil sie ihre Menschenrechte friedlich ausgeübt habe, indem sie sich mit anderen traf und über Frauen- und Arbeitsrechte diskutierte, und weil sie Literatur zu diesen Themen besaß. Amnesty International erfuhr, dass Mehran Raoof bei den Verhören gefoltert und anderweitig misshandelt wurde, was bei ihm psychische Probleme auslöste. Unter anderem wurde ihm mit Gewalt gedroht, wenn er nicht kooperierte, und er wurde in einem Raum festgehalten, in dem das Licht 24 Stunden am Tag brannte.

Die Gefängnis- und Strafverfolgungsbehörden, die beide der Justiz unterstehen, verweigern Nahid Taghavi eine angemessene medizinische Versorgung, obwohl Fachärzt_innen im September 2021 erklärten, sie müsse dringend an der Wirbelsäule operiert werden. Nahid Taghavis Tochter sagte, die chronischen Rückenschmerzen hätten sich dadurch verschlimmert, dass die Revolutionsgarden ihre Mutter gezwungen hätten, nur auf einer dünnen Decke auf dem Boden in Trakt 2A des Evin-Gefängnisses zu schlafen.

Weitere Informationen zu Mehran Raoof finden Sie hier: https://www.amnesty.de/mitmachen/urgent-action/iran-mehran-raoof-arbeitsrechtsaktivist-willkuerlich-in-haft-2021-02-23

Hintergrundinformation

Hintergrund

Nachdem Nahid Taghavi monatelang über ihre Rückenschmerzen geklagt und um Zugang zu fachärztlicher Behandlung gebeten hatte, wurde sie Anfang Juni 2021 für eine MRT-Untersuchung in ein Krankenhaus außerhalb des Gefängnisses gebracht. Bis zum 21. September erhielt sie keine Informationen zu den Ergebnissen der Untersuchung. Erst dann wurde sie ohne Vorankündigung zu einem Krankenhaus transportiert, erhielt die Resultate und wurde am selben Tag wieder zurück ins Gefängnis gebracht. Ende Oktober 2021 teilte der Leiter der medizinischen Einrichtung des Evin-Gefängnisses Nahid Taghavi mit, dass er ihrer Rückenoperation zugestimmt habe, aber noch den Rat der Organisation für Rechtsmedizin im Iran, ein forensisches Institut unter Aufsicht der Justiz, benötige. Am 21. Juli 2021 war Nahid Taghavi nach einem Ausbruch von Corona in der Frauenabteilung des Evin-Gefängnisses positiv auf Covid-19 getestet worden. Ihr Antrag auf Verlegung in ein Krankenhaus außerhalb des Gefängnisses oder auf vorübergehende Haftentlassung aus gesundheitlichen Gründen, aufgrund ihres hohen Alters und ihrer Vorerkrankungen (Diabetes und Bluthochdruck), war abgelehnt worden. Die Staatsanwaltschaft teilte ihr mit, dass sie nicht vorübergehend entlassen werden dürfe, weil in ihrem Prozess noch kein Urteil ergangen sei. Paragraf 217 der iranischen Strafprozessordnung beinhaltet jedoch eine Reihe von Alternativen für die Entlassung aus der Haft vor dem Urteilsspruch, einschließlich der Freilassung gegen Kaution. Am 1. September 2021 teilten die Gefängnisbeamt_innen Nahid Taghavi mit, dass ihr im Juli 2021 gestellter Antrag auf vorübergehende Haftentlassung aus gesundheitlichen Gründen genehmigt worden sei, und wiesen sie an, eine Kaution zu hinterlegen. Obwohl sie dies gemacht hat, bleibt ihr die vorübergehende Haftentlassung aus medizinischen Gründen weiterhin verweigert.

Seit ihrer willkürlichen Inhaftierung verbrachten Mehran Raoof und Nahid Taghavi fast neun Monate bzw. mehr als sechs Monate im Trakt 2A des Evin-Gefängnisses, das von den Revolutionsgarden kontrolliert wird. Nahid Taghavi war nur einen Monat davon mit einer weiteren Person inhaftiert gewesen, den Rest dieser Zeit hatte sie in verlängerter Einzelhaft verbracht. Mehran Raoof wurde einen Monat lang in verlängerter Einzelhaft gehalten, bevor er in eine Zelle mit mindestens einer weiteren Person verlegt wurde. Am 12. Juni 2021, weniger als 24 Stunden vor seiner letzten Verhandlungssitzung, wurde er aus dem Trakt 2A in die öffentliche Abteilung des Evin-Gefängnisses verlegt, und ihm wurde das Recht verweigert, sich während des Prozesses mit seinem Rechtsbeistand zu treffen.

Nahid Taghavis Tochter berichtete, dass ihre Mutter in Trakt 2A mindestens 80 Vernehmungen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand über sich ergehen lassen musste und dass die Verhörenden ihr die Augen verbanden, sie mit dem Gesicht zur Wand zwangen oder sie durch einen Einwegspiegel befragten. Am 26. März 2021 wurde Nahid Taghavi in die Frauenabteilung des Evin-Gefängnisses verlegt, blieb jedoch nur bis zum 15. April dort, da sie plötzlich wieder in Einzelhaft in Trakt 2A verlegt wurde. Sie blieb bis zum 16. Mai in Einzelhaft, mit Ausnahme ihrer Teilnahme an der ersten Anhörung in ihrem Prozess am 28. April. Nahid Taghavi legte keine Rechtsmittel gegen ihre Verurteilung und ihr Strafmaß ein, unter anderem weil sie die gesamte Verfahrensweise für ungerecht hält. Die Rechtsmittel, die Mehran Raoof einlegte, sind noch anhängig.

Die Abteilung 26 des Revolutionsgerichts in Teheran hat eine Reihe von Arbeitsrechtsaktivist_innen, die zwischen Oktober 2020 und Dezember 2020 willkürlich festgenommen worden waren, wegen ihres Einsatzes für die Menschenrechte zu langen Haftstrafen verurteilt. Drei davon standen im selben Fall wie Nahid Taghavi und Mehran Raoof vor Gericht, nämlich Somayeh Kargar und Bahareh Soleimani, die je zu sechs Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurden, und Nazanin Mohammadnejad, die drei Jahre und vier Monate Gefängnis erhielt. Der Aktivist Arash Johari wurde in einem anderen Fall zu 16 Jahren Gefängnis verurteilt.

Amnesty International hat dokumentiert, wie die iranischen Behörden die Standards für ordnungsgemäße Gerichtsverfahren systematisch verletzen – vom Zeitpunkt der Festnahme bis die Angeklagten vor Gericht gestellt werden. Die Betroffenen werden oftmals ohne Haftbefehl festgenommen und an unbekannten Orten ohne Kontakt zu ihren Familien in verlängerter Einzelhaft gehalten. Personen, die im Iran inhaftiert, zu Verhören vorgeladen oder strafrechtlich verfolgt werden, sind oftmals grob unfairen juristischen Verfahren ausgesetzt. Dies betrifft insbesondere aus politischen Gründen angeklagte Menschen – wie Menschenrechtsverteidiger_innen – oder Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft. Die Strafverfolgungsbehörden sowie Vernehmungsbeamt_innen von Sicherheits- und Geheimdienstinstitutionen, z. B. der iranischen Revolutionsgarde, verweigern Inhaftierten systematisch den Zugang zu einem Rechtsbeistand – ab dem Zeitpunkt ihrer Festnahme und während der ganzen Dauer der Ermittlungen. Politische Häftlinge werden besonders während Verhören systematisch gefoltert und anderweitig misshandelt. Beispielsweise werden sie in verlängerter Einzelhaft gehalten, geschlagen, ausgepeitscht, an den Gliedmaßen aufgehängt, ihnen werden chemische Substanzen und Elektroschocks verabreicht oder sie erfahren sexualisierte Gewalt. Gefängnis- und Strafverfolgungsbehörden verweigern gewaltlosen politischen Gefangenen und anderen politischen Häftlingen absichtlich den Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung und Medikamenten.