Chile: Drohende Kriminalisierung von Flüchtlingen und Migrant*innen

Das Bild zeigt mehrere Personen, die mit Taschen durch eine karge Landschaft gehen, im Hintergrund sind hohe Berge zu sehen.

Am 10. April 2023 begann der Ausschuss für Bürgersicherheit der chilenischen Abgeordnetenkammer mit der Diskussion über einen Gesetzentwurf, der Flüchtlinge und Migrant*innen ohne regulären Aufenthaltsstatus in Chile kriminalisiert. Im Falle einer Verabschiedung des Gesetzes droht allen, die der Einreise und des Aufenthalts im Land ohne gültige Papiere für schuldig befunden werden, eine Haftstrafe. Der Gesetzentwurf greift bereits bestehende Maßnahmen und Praktiken in Chile auf, die gegen das Recht auf Asyl verstoßen und Flüchtlinge und Migrant*innen einer erhöhten Gefahr weiterer Menschenrechtsverletzungen aussetzen würden, darunter dem Risiko einer willkürlichen Inhaftierung.

Appell an

Mr Vlado Mirosevic Verdugo

Presidente de la Cámara
de Diputadas y de Diputados de Chile

Avenida Pedro Montt s/n

Valparaíso

CHILE

Sende eine Kopie an

Twitter: @vladomirosevic

 

Botschaft der Republik Chile

I.E. Frau Maria Magdalena Atria Barros

Mohrenstr. 42

10117 Berlin


Fax: 030-726 203 603

E-Mail: echile.alemania@minrel.gob.cl

Amnesty fordert:

  • Hiermit fordere ich Sie auf, alles in Ihrer Macht Stehende zu tun, um sicherzustellen, dass dieser Gesetzentwurf von der chilenischen Abgeordnetenkammer abgelehnt wird und dass alle künftigen Gesetzentwürfe, die die Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen in Chile einschränken sollen, ebenfalls abgelehnt werden.

Sachlage

Der chilenischen Abgeordnetenkammer liegt derzeit ein Gesetzentwurf vor, der eine Kriminalisierung von Flüchtlingen und Migrant*innen vorsieht. Er verstößt gegen internationales Flüchtlingsrecht sowie gegen internationale Menschenrechtsnormen und -standards und muss daher abgelehnt werden.

Im Falle einer Verabschiedung des Gesetzentwurfs werden Menschen, die nach Chile kommen, nur deshalb bestraft, weil sie auf der Suche nach Schutz oder einem besseren Leben sind. Die chilenischen Behörden haben bereits Hindernisse geschaffen, um Menschen in Chile Schutz zu verweigern. Dazu gehören die Visapflicht bei der Einreise, ohne dass diese Visa zu bekommen wären und die Verweigerung der Einreise an der Grenze. Aber auch mangelnde Informationen über das Recht, internationalen Schutz zu beantragen, sowie rechtswidrige Praktiken der Bestrafung von Asylsuchenden, indem diese aufgefordert werden, sich bei den Behörden zu melden, weil sie ohne Erlaubnis nach Chile eingereist sind. Alle diese Maßnahmen verstoßen gegen das Recht auf Asyl und machen es praktisch unmöglich, in Chile einen regulären Aufenthaltsstatus oder internationalen Schutz zu erhalten.

Der aktuelle Gesetzentwurf stellt einen eklatanten Versuch dar, die Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen weiter einzuschränken. Ohne gültige Papiere in ein Land einzureisen, darf nicht als Verbrechen eingestuft werden.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Der in Amtsblatt Nr. 15261-25 veröffentlichte Gesetzentwurf, der strafrechtliche Sanktionen – darunter auch Gefängnisstrafen – gegen Personen vorsieht, die ohne Erlaubnis ins Land einreisen oder sich dort aufhalten, verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, insbesondere gegen Artikel 31 über die Nichtkriminalisierung der "unrechtmäßigen" Einreise von Asylsuchenden und Flüchtlingen. Darüber hinaus haben Expert*innen und Menschenrechtsgremien auf interamerikanischer Ebene und auf Ebene der Vereinten Nationen unterstrichen, dass die Einreise und der Aufenthalt ohne gültige Papiere niemals als Straftat behandelt werden dürfen. Die Kriminalisierung der "irregulären" Migration ist nach dem Völkerrecht unnötig und unverhältnismäßig und kann zu willkürlichen Inhaftierungen führen.

Der oben genannte Gesetzentwurf ist nicht der einzige Versuch, die unerlaubte Einreise nach Chile zu kriminalisieren. Die Diskussion und bevorstehende Abstimmung über den Entwurf finden vor dem Hintergrund einer zunehmenden Stigmatisierung von ausländischen Menschen im Land statt, von der insbesondere schutzbedürftige Venezolaner*innen betroffen sind.

Angesichts der wachsenden Zahl von Personen, die ins Land kommen, ordnete die Regierung im Februar 2023 an, die Grenze im Norden durch das Militär zu sichern. Darüber hinaus haben Legislative und Exekutive seit der zweiten Jahreshälfte 2022 mehrere Gesetzesreformen vorangetrieben, die einen Verstoß gegen die Rechte von Asylsuchenden und Migrant*innen darstellen würden.

Bis März 2023 waren schätzungsweise 7,24 Millionen Menschen aufgrund der komplexen humanitären Notlage und der massiven Menschenrechtsverletzungen im Land aus Venezuela geflüchtet. Dies ist die größte Flüchtlingskrise in Nord- und Südamerika und eine der größten weltweit. Chile ist nach Kolumbien, Peru und Ecuador das viertgrößte Aufnahmeland für Venezolaner*innen in Lateinamerika und der Karibik, mit schätzungsweise 444.400 venezolanischen Staatsangehörigen in seinem Hoheitsgebiet (eine vorsichtige Schätzung, da die Zahl vom Dezember 2021 stammt). Amnesty International ist der Ansicht, dass es sich bei diesen Menschen um Flüchtlinge im Sinne der Flüchtlingsdefinition der Erklärung von Cartagena handelt, die in chilenisches Recht aufgenommen wurde.

In dem Bericht No one wants to live in hiding: Lack of protection for Venezuelan refugees in Chile hat Amnesty International eine Reihe von den Behörden verabschiedeter oder umgesetzter Maßnahmen benannt, die in ihrer Gesamtheit in der Praxis verhindern, dass schutzbedürftige Personen wie Venezolaner*innen in Chile Asyl beantragen oder einen regulären Aufenthaltsstatus erlangen können. Da es unmöglich ist, ein Visum zu erhalten, haben Menschen, die internationalen Schutz benötigen, wie z. B. Venezolaner*innen, keine andere Möglichkeit, als ohne offizielle Erlaubnis einzureisen. Andere sind an der Grenze einer nach dem Völkerrecht verbotenen Zurückweisung und damit einem erhöhten Risiko schwerer Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Personen, die des internationalen Schutzes bedürfen und denen die Einreise nach Chile gelingt, ist es kaum möglich, den Flüchtlingsstatus oder einen regulären Aufenthaltsstatus zu erlangen, da neben anderen willkürlichen Praktiken, die gegen das Völkerrecht und das internationale Flüchtlingsrecht verstoßen, die rechtswidrige Verpflichtung besteht, ihre "irreguläre" Einreise selbst zu melden. Im Jahr 2021 registrierte die staatliche Einwanderungsbehörde 3.867 Asylanträge. Von diesen Anträgen stammten 79 Prozent von venezolanischen Staatsangehörigen. In diesem Jahr wurden insgesamt nur 19 Anträge genehmigt, während 3.082 abgelehnt wurden. Im März 2023 warnte Amnesty International, dass Flüchtlinge durch die Verweigerung des Zugangs zum Verfahren zur Anerkennung als Flüchtling der ernsten Gefahr ausgesetzt sind, an Orte zurückgeschickt zu werden, an denen ihr Leben und ihre Rechte bedroht sind.