Richterliche Unabhängigkeit in Gefahr

Vier Amnesty Mitglieder halten Schilder und fordern, dass Tötungen durch Sicherheitskräfte aufhören.

Amnesty Aktion in Rio de Janeiro gegen Militär- und Polizeigewalt

Der brasilianische Senat berät über einen Gesetzentwurf, der vorsieht, dass Menschenrechtsverletzungen, die von Militärangehörigen gegen Zivilpersonen begangen wurden, vor Militärgerichten verhandelt werden können. Hierzu zählen auch Straftaten wie Tötungen und außergerichtliche Hinrichtungen. Sollte die Gesetzesvorlage angenommen werden, so würde dies gegen die Rechte auf ein faires Gerichtsverfahren, auf richterliche Unabhängigkeit und auf unparteiische Urteilsfindung verstoßen.

Appell an

Präsident des Bundessenats Eunício de Oliveira       

Praça dos Três Poderes

Senado Federal, Anexo I – 17º

Pavimento, Brasília, DF

CEP: 70165-900, BRASILIEN

Sende eine Kopie an

Generalstaatsanwältin

Raquel Dodge  


Procuradoria Geral da República

SAF Sul Quadra 4 Conjunto C

Brasília, DF

CEP: 70050-900

BRASILIEN

Fax: (00 55) 61 3105-5100

Botschaft der Föderativen Republik Brasilien

S. E. Herrn Mario Vilalva

Wallstraße 57

10179 Berlin

Fax: 030 – 7262 83 20

oder 030 – 7262 83 21


 

Amnesty fordert:

  • Bitte lehnen Sie den Gesetzentwurf Nr. 44/2016 ab, da ansonsten Straftaten, die von Militärangehörigen gegen Zivilpersonen begangen werden, vor Militärgerichten verhandelt werden können. Hierzu zählen auch Delikte wie Tötungen und außergerichtliche Hinrichtungen.
  • Sorgen Sie bitte dringend dafür, dass jegliche Entwürfe zur Änderung des Strafjustizsystems in vollem Umfang den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entsprechen.

Sachlage

Der brasilianische Senat berät derzeit über Gesetzentwurf Nr. 44/2016, der im Fall einer Verabschiedung das Gesetz 9.299/2016 abändern würde. Die Gesetzesvorlage sieht vor, dass Menschenrechtsverletzungen, die von Militärangehörigen gegen Zivilpersonen begangen wurden, vor Militärgerichten verhandelt werden können. Hierzu zählen auch schwere Straftaten wie z. B. Mord und versuchter Mord. Die derzeitige Gesetzeslage in Brasilien basiert auf Artikel 125 der Verfassung und sieht vor, dass Straftaten von Militärangehörigen gegen Zivilpersonen vor einem Geschworenengericht verhandelt werden. Sollte der neue Gesetzentwurf angenommen werden, so würde dies gegen Brasiliens völkerrechtliche Verpflichtungen verstoßen, da z. B. das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren nicht mehr gegeben wäre, weil bei Verfahren vor Militärgerichten die richterliche Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist. Die Gesetzesvorlage wurde bereits im Repräsentantenhaus angenommen und soll nach dem 10. Oktober dem Senat zur Abstimmung vorgelegt werden.

Die brasilianischen Behörden setzen für die Polizeiarbeit in städtischen Gegenden immer stärker auf Angehörige der Streitkräfte, was bereits zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen geführt hat. Der Gesetzentwurf ist außerdem deshalb bedenklich, da er zu erhöhter Straflosigkeit für das Militär führen könnte. Menschenrechtliche und zivilgesellschaftliche Organisationen in Brasilien bezeichnen die Gesetzesvorlage bereits als "Lizenz zum Töten".

Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederholt betont, dass die Militärgerichtsbarkeit nur begrenzt und in Ausnahmefällen Anwendung finden darf, und auch dann nur auf Militärangehörige, denen eine militärische Pflichtverletzung vorgeworfen wird. Zudem hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte Brasilien in einem direkten Urteil aufgefordert, Menschenrechtsverletzungen von Militärangehörigen nicht innerhalb der Militärgerichtsbarkeit zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Es ist kein Verstoß gegen internationale Menschenrechtsstandards, amtierenden Militärangehörigen vor Militärgerichten den Prozess zu machen, solange die Gerichte unabhängig und unparteiisch sind und es sich bei den Vorwürfen nicht um "gewöhnliche Straftaten", Menschenrechtsverletzungen oder Verbrechen unter dem Völkerrecht handelt. Wenn die Straftat laut Menschenrechtsnormen "krimineller" Natur ist, muss das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren respektiert werden.

Die verfassungsmäßig geregelten "Einsätze für Recht und Ordnung" haben vermehrt dazu geführt, dass das Militär in bestimmten Städten des Landes mit Polizeiaufgaben betraut wurde. Die Streitkräfte wandten dabei jedoch ebensoviel Gewalt an wie die Polizei. Im Juni 2007 wurden bei einem Polizeieinsatz mit Unterstützung der brasilianischen Streitkräfte in Complexo do Alemão in Rio de Janeiro 19 Menschen getötet. Laut unabhängigen Expert_innen deutete dabei alles auf eine außergerichtliche Hinrichtung hin. Im Juni 2008 töteten Armeeangehörige in Morro da Providência in Rio de Janeiro drei junge Männer, die zuvor von Angehörigen des Militärs selbst an eine kriminelle Gruppe übergeben worden waren. Im Dezember 2011 wurde in Complexo do Alemão ein Jugendlicher getötet. Offenbar waren acht Militärangehörige für die Tötung verantwortlich. Zwischen 2014 und 2015 besetzten die Streitkräfte 15 Monate lang den Favelakomplex Complexo da Maré, und in dieser Zeit wurden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch Militärangehörige begangen. Damals musste sich ein Mann namens Victor Santiago ein Bein abnehmen lassen, nachdem er von Armeeangehörigen angeschossen worden war. Weitere Informationen finden Sie in dem englischsprachigen Amnesty-Bericht A legacy of violence: Killings by police and repression of protest at the Rio 2016 Olympics, online unter: https://www.amnesty.org/en/documents/amr19/4780/2016/en/.

Anfang Oktober 2017 sagte der Armeebefehlshaber Eduardo Dias da Costa Villas Bôas öffentlich, dass Armeeangehörige bei "Einsätzen für Recht und Ordnung" und anderen Einsätzen mit Polizeiaufgaben keine rechtlichen Schutzmaßnahmen einhalten müssten. Er fügte hinzu, dass es notwendig sei, Militärangehörigen eine bestimmte Sicherheit zu geben, wenn sie sich im "Kampf" gegen Zivilpersonen befänden. Diese Aussage hat die Bedenken über Straflosigkeit im Fall einer Verabschiedung von Gesetzentwurf Nr. 44/2016 durch den Senat noch verstärkt.

In Brasilien besteht das Oberste Militärgericht derzeit aus 15 Amtsträger_innen, davon drei Luftfahrtgeneräle, vier Armeegeneräle, drei Marinegenerälen und fünf Zivilpersonen. Die Zusammensetzung des Gerichts ist eng mit den Streitkräften verknüpft. Die militärischen Angehörigen des Obersten Militärgerichts grenzen sich nicht von den Streitkräften ab, wie in Paragraf 3, Absatz 2 des Gesetzes Nr. 8.457/92 nachzulesen ist.

Die brasilianischen Behörden greifen häufig auf die Streitkräfte zurück, um Polizeiaufgaben in Stadtgebieten zu übernehmen. Dies ist offenbar ein strategischer Versuch, die hohe Gewaltrate unter Kontrolle zu bringen. Brasilien hat die höchste Mordrate der Welt: 2015 wurden 59.080 Morde verübt. Die Mordrate und auch andere Kriminalitätsraten sind in Brasilien in den vergangenen Jahrzehnten stetig angestiegen. Die Sicherheitskräfte rechtfertigen häufig außergerichtliche Hinrichtungen als Mittel zur Förderung der Sicherheit und Senkung der Gewalt. Im Bundesstaat Rio de Janeiro wurden zwischen 2005 und 2016 mehr als 10.000 Menschen von Angehörigen der Polizei getötet, im Bundesstaat São Paulo waren es mehr als 2.000.

Sollte der Gesetzentwurf angenommen werden, würde damit gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und gegen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren verstoßen. Zudem haben der UN-Menschenrechtsausschuss, der UN-Ausschuss gegen Folter, der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte und die Interamerikanische Menschenrechtskommission betont, dass die Militärgerichtsbarkeit nur auf Militärangehörige angewendet werden sollte, denen eine militärische Pflichtverletzung vorgeworfen wird.