Amnesty Journal Europa und Zentralasien 21. Januar 2016

Im Stich gelassen

Seit Beginn der Flüchtlingskrise fehlt es an Solidarität mit den Nachbarländern Syriens.

Die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist durch den bewaffneten Konflikt vertrieben. Die überwiegende Mehrzahl der Syrerinnen und Syrer, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, wurden von den Nachbarstaaten aufgenommen. Vier Millionen syrische Flüchtlinge leben in nur drei Ländern: in der Türkei, im Libanon und in ­Jordanien.

Diese Staaten ­werden seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Ihnen wurde weder ­finanziell unter die Arme gegriffen, noch wurden die humanitären Programme der UNO ­ausreichend unterstützt. Auch großangelegte Programme zur Aufnahme von Flüchtlingen aus diesen Erstaufnahmeländern wurden nicht ins Leben gerufen.

Erst als im vergangenen Jahr Hunderttausende Flüchtlinge nach Europa kamen, lenkten europäische Politikerinnen und Politiker, die im selben Jahr noch Zahlungen an das Welt­ernährungsprogramm und damit wichtige Unterstützung vor Ort gekürzt hatten, ihren Blick auf die Flüchtlingslager in den Nachbarländern.

Zuvor war dies ein "blinder Fleck" im Bewusstsein der europäischen Regierungen. Zum Teil war es erst die Perspektivlosigkeit in diesen Lagern, die Menschen zur weiteren Flucht nach Europa gezwungen hatte. Nach ­dieser "Erkenntnis" wurde Besserung versprochen, Europa sagte eine Milliarde Euro für die Nachbarstaaten und eine Milliarde Euro für die UNO-Hilfsprogramme zu. Doch bis Ende 2015 war nur etwa die Hälfte des versprochenen Geldes geflossen.

Amnesty fordert seit dem Beginn der syrischen Flüchtlingskrise mehr Solidarität mit den Erstaufnahmeländern. Nicht für jeden Flüchtling ist eine Flucht nach Europa die ­richtige oder gewünschte Option. Ohne eine grundlegende Versorgung und Perspektive vor Ort werden sich aber weiterhin viele dafür entscheiden und dabei ihr Leben riskieren. Die europäischen Staaten müssen deshalb jetzt die syrischen Nachbarstaaten bei einer menschenwürdigen Aufnahme von Flüchtlingen unterstützen und außerdem Flüchtlingen sichere Einreisemöglichkeiten eröffnen.

_Wiebke Judith ist Fachreferentin für Asylrecht und Asylpolitik bei der deutschen Sektion von Amnesty International._

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