Amnesty Journal Europa und Zentralasien 19. März 2014

Popu­listische Kampagne

Eine Kolumne von Keno Verseck

Roma gehören seit jeher zu den am meisten verfolgten Volksgruppen Europas. Seit einigen Jahren entwickelt diese spezifische Roma-Feindlichkeit zunehmend neue Ausformungen: Roma aus Osteuropa werden in nie da gewesenem Maße zum Objekt populistischer Kampagnen etablierter Parteien und Politiker. In Deutschland lauten die Stichworte "Armutsmigration" und "Sozialmissbrauch". Wenn deutsche Politiker diese Termini benutzen, dann müssen sie nicht mehr sagen, wen sie meinen, weil ­jeder weiß, um wen es geht: in erster Linie um bulgarische und rumänische Roma, die das deutsche Sozialsystem missbrauchen.

Zwischen der Stimmungsmache gegen Sozialmissbrauch und der Realität liegen Welten. Tatsächlich existiert das Problem der sogenannten Armutsmigration in westeuropäischen Ländern und auch in Deutschland – allerdings nicht flächendeckend, sondern lediglich in einzelnen Bezirken einiger weniger Großstädte und bei weitem nicht so dramatisch, wie Politiker es ausmalen. Rumänische und bulgarische Staatsbürger – es sind keineswegs nur Roma, die vor der Armut in ihren Heimatländern fliehen – beziehen in Deutschland unterdurchschnittlich wenig Hartz-IV-Leistungen und auch unterdurchschnittlich wenig Kindergeld, in den wenigsten Fällen missbräuchlich. In den sogenannten Brennpunkten, darunter Bezirke in Berlin, Dortmund und Duisburg, ist weniger dieser Missbrauch ein Problem als vielmehr die Lebenssituation der Menschen aus Rumänien und Bulgarien: Sie arbeiten zu niedrigsten Löhnen, wohnen unter prekärsten Bedingungen, haben meist nur extrem wenig Bildung, meistens keine Krankenversicherung und sprechen kaum Deutsch.

Während in solchen Brennpunkten öffentliche Dienste und Behörden oft völlig überfordert sind und zu Recht mehr Unterstützung fordern, ist den Initiatoren der Debatte um Armutsmigration jegliche Verhältnismäßigkeit abhanden gekommen: Zehntausende Rumänen und Bulgaren zahlen Beiträge in das deutsche Sozialversicherungssystem ein und Deutschland hat in den vergangenen Jahren in besonderem Maße von Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien profitiert. Beispielsweise arbeiten in keinem anderen westeuropäischen Land mehr rumänische Ärzte – für ihre Aus­bildung musste Deutschland meistens wenig oder nichts zahlen.

Überhaupt gehört Deutschland zu den großen Gewinnern des europäischen Erweite­rungsprozesses: Deutsche Unternehmen konnten sich im Zuge der EU-Erweiterung lukrative Absatzmärkte in osteuropäischen Ländern, gerade auch in Rumänien und Bulgarien erschließen, Rumänien ist angesichts niedriger Lohnkosten zu einem Lieblingsstandort deutscher Branchen wie der Automobilzulieferer geworden und Tausende Rumänen und Bulgaren arbeiten hierzulande auf Feldern, in Schlachtereien oder auf dem Bau zu miserablen Stundenlöhnen.

Dass Deutschland in diesem Maße von der EU-Erweiterung profitieren konnte, hat seinen Ursprung in dem bisher vielleicht glücklichsten Jahr der europäischen Geschichte: im Jahr 1989, in dem der Eiserne Vorhang und die Mauer fielen. Genau ein Vierteljahrhundert ist seitdem vergangen. Aus Anlass dieses Jubiläums wird in den kommenden Monaten mit vielen Festakten daran erinnert werden. Es wird auch daran erinnert werden, im Zeichen welcher Grundwerte Europa zusammenfand: Freiheit und Solidarität – auch heute noch die höchsten Werte der EU. Dass nun dieses Jubiläumsjahr ausgerechnet mit einer populistischen Debatte über Armutsmigration beginnt, dass die Forderung erhoben wird, die Fingerabdrücke angeblicher Sozial­betrüger zu registrieren und Einreisesperren für sie zu errichten, dass die Roma, ­Europas größte Minderheit, zu einem Synonym für Sozialmissbrauch und Kriminalität geworden sind, ist traurig, unwürdig, schäbig und zynisch.

Keno Verseck lebt als freier Journalist und Osteuropa-Spezialist in Berlin. 2012 arbeitete er in Berlin in einem Projekt zur Unterstützung hilfsbedürftiger Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien.

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