Amnesty Journal Griechenland 25. Juli 2011

"Hier läuft gar nichts"

Flüchtlinge leben in Griechenland unter katastrophalen Bedingungen, kritisiert ­Amnesty International. Mit dem größten Hungerstreik in der Geschichte des
Landes machten Migranten auf ihre miserable Lage aufmerksam – und erreichten
einen ­Teilerfolg.

Von Jannis Papadimitriou

Hassan ist den Tränen nahe, als er seine Geschichte ­erzählt. Vor sechs Jahren kam der damals 23-jährige Akademiker illegal aus Marokko nach Griechenland. Dafür musste er eine halbe Weltreise unternehmen: Mit einem Billigflieger reiste er nach Istanbul, dort musste er drei Tage in einem Hotel ausharren und auf genaue Anweisungen warten, dann ging es zu Fuß weiter: Über eine Woche lang liefen Hassan und seine Fluchtgefährten bis zur türkisch-griechischen Grenze, wo sie schließlich eine Lücke fanden. Mit einem Bus gelangten sie anschließend nach Athen.

In seiner neuen Wahlheimat musste sich Hassan zunächst mit Schwarzarbeit über Wasser halten, als Fliesenleger, Bauarbeiter oder Melonenpflücker – ohne Papiere, versteht sich. Dabei hat er in Marokko Geschichte und Geographie studiert. Englisch und Französisch beherrscht er sehr gut, Griechisch hat er mittlerweile dazu gelernt. Dass er heute noch als umherreisender Erntehelfer arbeiten muss, kostet ihn viel Überwindung, aber er versucht, nicht daran zu denken, sagt er.

Er wäre schon zufrieden, wenn er in Griechenland eine legale Existenz aufbauen könnte. Aber dies bleibt ihm bis heute verwehrt. Einmal wurde ihm ein Anwalt empfohlen, der angeblich innerhalb weniger Wochen eine Aufenthaltserlaubnis besorgen könne. 1.500 Euro, einen großen Teil seiner Ersparnisse, habe er damals für diesen Service bezahlt und trotzdem keine Aufenthaltserlaubnis bekommen, sagt Hassan. Sein Geld sah er nie wieder – und den dubiosen Anwalt auch nicht.
Viele Flüchtlinge könnten ähnliche Geschichten erzählen, sagt der leicht melancholisch wirkende Mann aus Marokko. Irgendwann wurde es ihnen allen zu viel und sie beschlossen, ihr Aufenthaltsrecht in Griechenland durch einen Streik zu erkämpfen. Vier Monate lang wurde die Aktion sorgfältig vorbereitet, denn viele Flüchtlinge mussten erst davon überzeugt werden. Zu groß war das Risiko, dass man sie festnehmen und ausweisen würde.

In Athen, Thessaloniki und auf der Insel Kreta standen ihnen rechtskundige Aktivisten und Studentengewerkschaften mit Rat und Tat zur Seite. Die Mehrheit der griechischen Bevölkerung lehnt eine Legalisierung der Flüchtlinge jedoch ab. Mehr als die Hälfte glaubt, dass es in Griechenland schon heute zu viele Ausländer gibt. Im Zuge der aktuellen Wirtschaftskrise ist der Ton gegenüber Einwanderern rauer geworden, die Arbeitslosigkeit ist in Griechenland so hoch wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Viele Einheimische sind mittlerweile selbst auf die Gelegenheitsjobs angewiesen, die traditionell von Migranten verrichtet wurden.

Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, kam es im Januar 2011 dann doch zum größten Hungerstreik in der Geschichte Griechenlands. In mehreren griechischen Städten hielten ins­gesamt 300 Migranten öffentliche Gebäude vorübergehend ­besetzt, sie verweigerten die Nahrung und riefen Parolen wie "Aufenthaltserlaubnis oder Tod".

Der griechische Innenminister Jannis Ragoussis ließ zunächst verlauten, die Regierung lasse sich nicht erpressen. Doch dann zeigte er sich nachgiebig und sogar bereit, persönlich mit den Flüchtlingen zu verhandeln. Allerdings zogen sich diese Gespräche in die Länge. Nach vier bis fünf Wochen ohne feste Nahrung wurden viele Flüchtlinge mit Herz- und Nierenleiden in Krankenhäuser eingeliefert, ihr Leben hing am seidenen Faden. Erst im letzten Moment wurde ein Kompromiss und damit auch ein Teilerfolg für die Flüchtlinge erreicht: Innenminister Ragoussis sagte, die Hungerstreikenden würden zwar keine Aufenthaltserlaubnis bekommen, aber immerhin eine sechsmonatige Duldung, die beliebig oft erneuert werden könne. Zudem würden alle Flüchtlinge legalisiert, die bereits länger als acht Jahre in Griechenland lebten und arbeiteten, ob mit oder ohne Papiere.

Auch Abdul, ein 26-jähriger Gelegenheitskellner aus Marokko, hat an dem erfolgreichen Hungerstreik teilgenommen. Seit sieben Jahren schlägt er sich mit Nebenjobs durch, zuletzt hat er als Aushilfe in einem Nobelrestaurant im Nordosten Athens gearbeitet. Seine Aufenthaltserlaubnis läuft bald aus, weil er seit Monaten keine Arbeit mehr hat. Nach geltendem Recht verliert ein Migrant sein Aufenthaltsrecht, sofern er nicht mindestens 200 Tage im Jahr in die griechische Sozialversicherung einzahlt. Mehrmals habe er sich um neue Papiere bemüht, doch habe er sich dabei immer wieder im griechischen Bürokratie-Dschungel verlaufen, erzählt Abdul. Dann entschied er sich für den Hungerstreik: "Es gab einfach keine Alternative, sonst hätten wir wahrscheinlich hundert Jahre auf unsere Papiere warten müssen", sagt er zynisch. "In Spanien kann man für 40 Euro eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, hier geht gar nichts", klagt er. Doch den kurzen Weg von Marokko nach Spanien konnte er nicht mehr antreten. Die Zeiten, als Tausende von Migranten über die iberische Halbinsel nach Europa gelangten, sind vorbei. Seitdem die Spanier ihre Küste abschotten, weichen die Flüchtlinge auf östlichere Routen aus. Über Griechenland verläuft inzwischen die wichtigste Route nach Europa. Nach Angaben aus Brüssel kommen mittlerweile acht von zehn Armutsflüchtlingen über die türkisch-griechische Grenze in die EU.

Hätten die unerwünschten Migranten aus Nordafrika lieber Asyl bei den griechischen Behörden beantragen sollen? "Das hätte bestimmt keinen Sinn ergeben", sagt Abdul. Auch alle griechischen Helfer der Flüchtlinge sind dieser Meinung, da ein geordnetes Asylsystem in Griechenland erst im Aufbau begriffen ist. Tausende von Asylanträgen warten auf ihre Bearbeitung. In Grenznähe aufgegriffene Flüchtlinge werden sofort zurück­gewiesen oder in restlos überfüllte Auffanglager gebracht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Griechenland wiederholt verurteilt, weil die unwürdigen Zustände in den Internierungslagern die Europäische Menschenrechtskonvention verletzen. Auch Amnesty International kritisiert die griechische Einwanderungspolitik: Flüchtlinge würden teilweise unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten, sie hätten keine Chance auf ein faires Asylverfahren und seien in Gefahr, in Länder abgeschoben zu werden, in denen ihnen Folter und Verfolgung drohe, heißt es in einem Bericht, der im vergangenen Jahr erschienen ist. Die Situation für Flüchtlinge in Griechenland sei katastrophal, die Regierung in Athen versage beim Flüchtlingsschutz auf ganzer Linie.

Griechische Politiker sehen die Schuld beim Nachbarn. Sie werfen der Türkei vor, ihre Grenze unzureichend zu kontrollieren, ja sogar den "Flüchtlingsstrom" gezielt als Druckmittel in den laufenden EU-Beitrittsverhandlungen zu nutzen. Das Argument erscheint nicht abwegig. Für die EU steht jedenfalls fest, dass Griechenland die Herausforderungen mit den Flüchtlingen nicht in den Griff bekommt.
Oder vielleicht doch? Der ehemalige EU-Energiekommissar und heutige "Minister für Bürgerschutz" Christos Papoutsis hatte da eine vermeintlich zündende Idee: Griechenland plane einen 206 Kilometer langen Zaun entlang der Grenze zur Türkei, der mit Digitalkameras und Bewegungsmeldern gesichert werde, teilte der Minister Ende 2010 mit. Nachdem seine Pläne international auf Kritik stießen, ruderte er zurück und erklärte, der Zaun solle vorerst nur entlang einer 12,5 Kilometer langen "Schwachstelle" des Grenzflusses Evros in Nordostgriechenland entstehen, in Zukunft würden eventuell weitere Maßnahmen folgen.

Hassan muss erst einmal an seine eigene Zukunft denken. Noch hat er die von den Behörden versprochene Duldung nicht bekommen. Er hofft, dass der Innenminister sein Versprechen einhält. Dann könnte er sich endlich ein neues Leben in Sicherheit aufbauen. Wie im Märchen möchte er sich am liebsten drei Wünsche erfüllen, sagt Hassan: Erstens, ein bescheidenes, ruhiges Leben führen. Zweitens, Liebe und Zuneigung erfahren. Und drittens, mit wenig Geld leben können.

Der Autor arbeitet als Korrespondent in Athen.

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