Amnesty Journal Frankreich 05. Juni 2009

Strafen nach Zahlen

Die Bedingungen in französischen Haftanstalten sind oft miserabel. Nur langsam bemüht sich die Regierung in Paris, den Strafvollzug zu reformieren.

Vor gut einem Jahr hatten auch die Vollzugsbeamten genug. Die Statistik zum 1. April 2008 bestätigte, was sie täglich sahen: Das Gefängnis von Gradignan war zu mehr als 200 Prozent belegt. 411 Plätze für 855 Insassen. Ein trauriger Rekord in der Geschichte der Einrichtung im Südwesten Frankreichs. Als wenig später noch auf ein Auto der Gefängnisverwaltung geschossen wurde, entschied sich das Wachpersonal für einen Streik. Ab sieben Uhr morgens blockierten 50 Beamte eine Stunde lang die Zufahrt zum Gefängnis. Ein Symbol, denn französische Strafvollzugsbeamte haben kein Streikrecht. Nachmittags zog eine Delegation zur Präfektur, um gegen die chronische Überbelegung und die zunehmende Gewalt an ihrem Arbeitsplatz zu protestieren. Seitdem hat sich wenig geändert.

Kein Wunder also, dass es im Mai dieses Jahres wieder in vielen Haftanstalten zu Streiks und zum Teil heftigen Auseinandersetzungen zwischen wütenden Gefängnisaufsehern und der Bereitschaftspolizei kam. Denn das Gefängnis von Gradignan ist in Frankreich kein Einzelfall. Nach Angaben des Justizministeriums in Paris waren Anfang März 138 von 234 Gefängnissen überbelegt. In 15 Haftanstalten saßen mindestens doppelt so viele Personen ein wie es Plätze gibt. Gewalt gehört zum Gefängnisalltag: Frankreich hat die höchste Selbstmordrate von Gefangenen in Europa. Betroffen sind vor allem die so genannten "maisons d’arrêt". Diese Einrichtungen sind für Untersuchungshäftlinge und Verurteilte vorgesehen, die eine höchstens einjährige Haftstrafe verbüßen oder auf ihre Verlegung warten.

Das 1967 eröffnete Gefängnis von Gradignan zählt zu diesen Einrichtungen. Es liegt am Rande von Bordeaux, zwischen einem trostlosen Vorort und einem gutbürgerlichen Wohnviertel, unweit der Autobahn. Kein Verkehrsschild deutet auf das Gebäude hin, das von Kiefern und einer Betonmauer eingerahmt wird. Gut ausgeschildert hingegen ist das "Haus der Menschenrechte" auf der anderen Seite der Autobahn. Eine Besuchsanfrage lehnt das Justizministerium ab. Eine Sprecherin befürchtet, dass "das Thema nicht positiv genug behandelt" werde.

Alain Guillemet ist Justizvollzugsbeamter in Gradignan und lokaler Sprecher der Gewerkschaft Unfa-Unsap. In sein winziges Büro passen gerade zwei Stühle und ein Schreibtisch. Das Fenster gibt den Blick auf die graue Gefängnisaußenmauer frei. "Derzeit haben wir 755 Häftlinge. Dazu kommen etwa 100 Personen, die mit einer elektronischen Fessel 'draußen' sind", sagt Guillemet. Am schlimmsten sei es im Gebäude A, wo sich 500 Häftlinge 252 Plätze teilten.

Wie man sich die "Mehrfachbelegung" konkret vorstellen muss? Die neun Quadratmeter großen Zellen, einst für eine Person gedacht, sind fast alle mit Etagenbetten ausgestattet. Nicht selten schläft ein dritter Häftling auf einer Matratze auf dem Boden. Doch es kann noch enger werden: "Es gibt sieben Zellen für jeweils sechs Gefangene. Die sind maximal 16 Quadratmeter groß. Zieht man die Fläche für Waschecke, Klo und Betten ab, bleibt nicht viel übrig", berichtet Guillemet. Er hat sich so sehr an die Überbelegung der offiziell 411 Plätze gewöhnt, dass er sagt: "Wenn wir, sagen wir mal, 500 Häftlinge hätten, wäre das gut."

Zwei Monate nach dem Streik der Aufseher besichtigte Justizministerin Rachida Dati im vergangenen Juni das Gefängnis von Gradignan. "Sie hat nicht mit Gewerkschaftern geredet, sondern nur mit Personal, das von der Direktion ausgewählt wurde", sagt Guillemet verbittert. Er habe Dati trotzdem in einem Gang mit Fragen konfrontiert. Vor laufenden Kameras kam die Ministerin nicht um eine Antwort herum. "Sie hat uns mit der neuen Haftanstalt in Mont-de-Marsan und Lohnverhandlungen vertröstet." Dabei ginge es ihm nicht ums Geld. Und das neue Gefängnis südlich von Bordeaux musste kurz nach seiner Einweihung wegen einer Strompanne vorübergehend geschlossen werden. Der Besuch der Ministerin hat Guillemet in seinem Eindruck bestärkt: "Die Gefängnisverwaltung meldet der Hierarchie systematisch nur ein Minimum dessen, was falsch läuft. Die denken eher an ihre Karriere als an die Realität vor Ort."

Die Realität bedeutet für einen Gefangnene in Gradignan: 21 Stunden am Tag eingeschlossen, zwei Mal 90 Minuten Spaziergang im Gefängnishof. In jeder Zelle ein Klo, das nur die Intimität eines kniehohen Mäuerchens bietet. Pro Etage sechs Duschen für 80 Häftlinge. Es gibt eine Gefängniswerkstatt, aber scheinbar mehr Bewerber als Arbeitsplätze. Sonderwünsche wie Fernsehen, Kühlschrank und Hygienepapier kosten Geld. Gewalttätige riskieren bis zu 45 Tage Isolation im Strafblock. Eine Ehrenamtliche beschreibt die Bedingungen: "Das ist eine heruntergekommene Zelle mit Bett, Stuhl, Stift und Papier", sagt Clara Baudelin. "Die Beleuchtung besteht aus einer kleinen orangenen Glühbirne. Der Hof ist eine etwas größere Zelle."

Baudelin ist eine von 43 Studenten der Organisation Genepi, die im Gefängnis von Gradignan unterrichten. Sie schildert den Mangel in allen Bereichen: zu wenige Unterrichtssäle, zu wenige Ärzte, zu wenige Vollzugsbeamte. "Pro Etage gibt es zwei Aufseher. Einer kümmert sich um die Spaziergänger, der andere führt zu den Duschen. Wer soll die Häftlinge zu den Angeboten der Ehrenamtlichen bringen?", fragt Baudelin. Alain Guillemet, der Vollzugsbeamte, bestätigt: "Mit der Überbelegung und unseren Überstunden fehlen uns 30 Beamte. Mindestens."

Die Gründe für die exzessive Auslastung der Gefängnisse sind vielfältig. Für manche war der "Plan 13.000" – der Ende der achtziger Jahre mit dem Neubau ebenso vieler Gefängnisplätze die Überbelegung beenden sollte – schlicht unterdimensioniert. Das Problem scheint jedoch zu sein, dass Frankreich bisher wenig an Alternativen zur Haft interessiert war. Denn die Überbelegung nahm parallel mit den Kapazitäten zu. Die Antwort der Politik: ein Plan 4.000 im Jahr 1996, ein Plan 13.200 im Jahr 2002. Untersuchungshäftlinge stellten in Frankreich jahrelang ein Drittel aller Inhaftierten – europäischer Rekord. Ihr Anteil nimmt ab, doch noch heute gilt für ein Viertel der 62.700 Häftlinge in französischen Gefängnissen die Unschuldsvermutung.

Zudem hat die Neuorientierung in der Strafverfolgung unter Präsident Nicolas Sarkozy teils groteske Folgen. Zum Beispiel die "Politik der Zahlen": "Für die Polizei lohnt es sich kaum, einen Mörder zu verfolgen", sagt Philippe Rossard, Sozialarbeiter im Gefängnis von Gradignan. "Das beschäftigt zehn Ermittler und bringt nur einen gelösten Fall. Besser schnappt man einen Zigarettenschmuggler, da stößt man leicht auf eine ganze Bande und kann '20' in die Statistik eintragen." Seit 2007 sollen Wiederholungstäter, die bereits für das gleiche Vergehen verurteilt wurden, fast automatisch eine erhöhte Mindeststrafe erhalten. Für Rauschmittel-Vergehen sind das vier Jahre. "Nimm Toni: Besitz von vier Gramm Heroin, macht vier Jahre Haftstrafe", schildert Rossard einen Fall. "Dabei kann der nicht anders: Das ist ein Suchtkranker!" Nach einer Erhebung sind 60 Prozent der Inhaftierten in Gradignan auf die eine oder andere Weise abhängig.

Drei Bordelaiser Anwältinnen kennen die Kniffs, um Mindeststrafen zu vermeiden. "Wir wissen, welcher Richter eher keine Mindeststrafe ausspricht", sagt Michèle Bauer, die auf ihrem Blog auch über Gradignan schreibt. "Die Staatsanwaltschaft legt aber quasi systematisch Einspruch ein", bemerkt Nathalie Chaveroux. Ihre Kollegin Sandrine Gaillardet sagt: "Ein Richter hat 20, 30 Dossiers am Tag. Wenn er nicht die Mindeststrafe verhängt, muss er das begründen. Das kostet Zeit."

Im Januar besichtigte der "Generalkontrolleur der Orte des Freiheitsentzugs", Jean-Marie Delarue, das Gefängnis von Gradignan. Delarue zog nach dem Besuch von mehreren Haftanstalten, Haftzellen in Polizeistationen und Psychiatrien bei der Vorstellung seines ersten Jahresberichts im April folgendes Fazit: Das "Ungleichgewicht zwischen den Sicherheitsbedürfnissen und den Rechten der Inhaftierten" sorge für "Spannungen, Leiden, Machtverhältnisse und Gewalt". Die Menschenrechtssituation sei "schlecht, gravierend". In ihren letzten Jahresberichten kritisierte Amnesty International ebenfalls die "harten" Haftbedingungen und die "chronische Überfüllung". Zudem bemängelt Amnesty, dass die Gefängnisverwaltung geplante Besuche des Generalkontrolleurs ablehnen oder verschieben könne.

Das Gefängnis von Gradignan nimmt am französischen Pilotprojekt zur Anwendung der Strafvollzugsregeln teil, die der Europarat 2006 beschloss. In der Tat scheint sich einiges gebessert zu haben: U-Häftlinge teilen ihre Zelle nicht mehr mit Verurteilten, Neuankömmlinge akklimatisieren sich in einem gesonderten Block, die Häftlinge können per Sprechanlage die Aufseher kontaktieren. Doch die Zellen sind weiterhin überfüllt. Im Rahmen der Reform des Strafvollzugs verhinderte der sonst regierungsnahe Senat einstimmig eine Aufweichung des eigentlich seit 1875 geltenden Artikels zur Einzelinhaftierung. Im Jahr 2014 sollen nun tatsächlich alle französischen Haftanstalten die Regel "ein Häftling pro Zelle" erfüllen, wie es auch der Europarat fordert. Es fällt jedoch schwer, daran zu glauben: Die Überfüllung von Gefängnissen wie Gradignan wird seit Jahren durch immer neue "Übergangsphasen" geduldet.

Von Matthias Sander.
Der Autor ist Journalist und lebt in Bordeaux.

Infokasten: Polizei steht über dem Gesetz
Nicht nur die Bedingungen in den französischen Gefängnissen sind kritikwürdig. "In Frankreich stehen Polizeibeamte über dem Gesetz", stellte Amnesty International im gleichnamigen Bericht im April fest. Weiter heißt es: "Gesetzwidriger Totschlag, Prügel, rassistische Beleidigungen und unverhältnismäßiger Einsatz von Polizeigewalt sind unter allen Umständen durch internationales Recht verboten. In Frankreich jedoch wird nach Beschwerden über diesen Typ von Menschenrechtsverletzungen selten effektiv ermittelt und die Verantwortlichen dieser Taten selten vor Gericht gebracht." 639 Klagen wegen Polizeigewalt hätten 2006 nur acht Entlassungen zur Folge gehabt.

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