Amnesty Journal China 15. Dezember 2009

Prügel als Fortschritt

In China bleiben die Webseiten des unbequemen Aktionskünstlers
Ai Weiwei gesperrt. Seine Gegner kommen dafür umso ausführlicher zu Wort.
Sie sehen in seiner oft bissigen Kritik an Partei und Gesellschaft nur eine
vom Ausland gesteuerte Kampagne.

Wer sich in China im Internet über Ai Weiwei informieren will, muss Geduld mitbringen, besonders in diesen Tagen. Viele chinesische Webseiten mit Informationen über den 52-jährigen Maler, Bildhauer, Architekten und Sozialkritiker, der sich selbst als Teil ­eines Gesamtkunstwerkes begreift, bleiben gesperrt.

Zu den Gründen gehört ein Ereignis, das weltweit Empörung ausgelöst hatte: In den frühen Morgenstunden des 12. August drangen Polizisten in der Stadt Chengdu in das Hotelzimmer des Künstlers ein und schlugen ihn zusammen. Ai Weiwei wollte an diesem Tag in einem Gerichtsverfahren zugunsten des Internetautors Tan Zuoren aussagen, der die Hintergründe der skandalös hohen Opferzahl unter Schulkindern beim Erdbeben von Sichuan 2008 untersucht hatte.

Tan gehört zu jenen Chinesen, die Auskunft über die Zahl und Namen der Toten verlangen und nach Verantwortlichen für Pfusch am Bau von Klassenzimmern fragen – und die sich mit den Erklärungen der Behörden nicht zufrieden geben wollen. Ai Weiwei veröffentlicht auf seinen Webseiten Informationen von Tan und anderen Erdbeben-Aktivisten.

Als Ai Weiwei einen Monat nach den Polizeischlägen seine neue Ausstellung in München vorbereiten will, muss er mit rasenden Kopfschmerzen ins Hospital. Dort operieren ihn die Ärzte sofort, da sich eine lebensbedrohliche Hirnblutung entwickelt hat. Die Fotos von Ai im Krankenbett, mit einem Beutel voller Blut neben dem bandagierten Kopf, gehen um die Welt. Auch in China können all jene Internetnutzer von dem Ereignis erfahren, die ausländische Webseiten anklicken.

Doch der Künstler, der sich mit seinem kräftigen Körperbau, dem runden Gesicht und buschigen Bart zum eigenen Markenzeichen gemacht hat und täglich Fotos von seinen Aktivitäten per Blog und Twitter verbreitet, erntet im eigenen Land nicht nur Mitgefühl. Auf einem der größten chinesischen Portale "Sina.com.cn" erscheint etwa ein Kommentar unter der Überschrift: "Die Prügel für Ai Weiwei kann man als sozialen Fortschritt betrachten". Darin wirft der unbekannte Autor Ai Weiwei vor, sich vor den Karren ausländischer Interessen spannen zu lassen.

"Früher haben die Polizisten Wanderarbeiter zusammengeschlagen, dann haben Straßenhändler städtische Kontrolleure verprügelt", heißt es. Wenn "die Polizei von Chengdu es wagt, mit Ai Weiwei einen Repräsentanten des Auslands zu verprügeln, dann ist das zweifellos ein großer sozialer Fortschritt". Die Unruhen in Sichuan nach dem Erdbeben (gemeint sind Proteste von Eltern, die nach den Verantwortlichen für den Einsturz der Schulen suchen) seien vom Ausland gesteuert und von Leuten wie Ai Weiwei angestachelt worden.

Anders als bei vielen anderen Blogs zu heiklen Themen erlaubten die Internetzensoren den Lesern, über die Zeilen zu debattieren. Dabei findet der nationalistische Tonfall durchaus Beifall. Solche Töne sind in letzter Zeit in China häufiger zu hören: Dahinter verbirgt sich nicht selten ein Gefühl, in dem sich Neid und historisches Gekränktsein mischen. Ai Weiweis internationaler Erfolg hat ihn nicht nur zu einem reichen Mann gemacht. Er hat ihn bislang auch geschützt und ihm erlaubt, die Kommunistische Partei und die Behörden schärfer zu kritisieren als andere es wagen können.

Nachdem Ai Weiwei am Entwurf des "Vogelnest"-Olympiastadions mitgearbeitet hatte, sprach er sich zum Beispiel öffentlich gegen die Art und Weise aus, in der die Pekinger Politiker die Spiele für ihre Propaganda nutzten. Derzeit zeigen zwei große Museen in Deutschland und Japan Werkschauen Ai Weiweis, in denen er bissig Entwicklungen in seiner Heimat aufzeigt ("So Sorry" im Münchner Haus der Kunst und "According to What" im Mori-Art-Museum von Tokio).

Dennoch überwiegen im chinesischen Internet die Stimmen, die gegen Polizeiwillkür und Gewalt plädieren. Einige Kommentatoren fragen sich, ob die Tirade des unbekannten Bloggers gegen Ai Weiwei womöglich von einem Mitglied der "50-Cent-Partei" verfasst worden sei. So bezeichnen Chinesen ironisch Landsleute, die sich von den Propagandabehörden für linientreue Kommentare bezahlen lassen.

Seit dem 18. Oktober ist Ai Weiwei wieder in Peking. Freunden, die ihn besuchten, zeigte er neue Überwachungskameras, die während seines Deutschlandbesuchs vor seinem Haus angebracht worden sind. Größere neue Projekte bereite er noch nicht vor, solange er nicht wieder ganz gesund sei, sagt der Künstler am Telefon: "Ich muss mich erst einmal erholen."

Von Jutta Lietsch.
Die Autorin ist China-Korrespondentin und lebt in Peking.

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