Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 06. Februar 2018

Der Gott des Kapitalismus

Ein älterer Mann mit Anzug steht mit verschränkten Armen vor einem Gebäude mit weißen Säulen

Berechnet, was ein Leben wert ist: Kenneth Freiberg

Der US-amerikanische Rechtsanwalt Kenneth Feinberg regelt die Schadenersatzansprüche von Hinterbliebenen und rechnet dafür den Wert von Menschenleben in Dollarbeträge um. Karin Jurschicks Dokumentarfilm "Playing God" handelt von unmöglichen Gleichsetzungen.

Von Jürgen Kiontke

Tagsüber sehe ich das Schlimmste der Zivilisation. In der Nacht: Ein Konzert, die Oper, der Höhepunkt der ­Zivilisation. Der Kontrast ist bemerkenswert." Kenneth Feinberg geht einer seltsamen, wenngleich sehr modernen Arbeit nach: Er regelt Schadenersatzansprüche. Man könnte sagen, er ist darauf spezialisiert, Opfern oder ihren Hinterbliebenen zu helfen. Negativ ausgelegt, sieht es so aus, als ob er Schadensverursachern den Ärger vom Hals hält.

Wie man es auch sieht, eines bleibt gleich: Feinberg rechnet menschliches Leid in Dollar um. Beim Anschlag auf das World Trade Center in New York wurde der 72-jährige Rechtsanwalt aus Washington zum ersten Mal im großen Stil aktiv: Er regelte die Forderungen der Hinterbliebenen. Damit beginnt auch Karin Jurschicks beeindruckendes filmisches Feinberg-Porträt "Playing God". "Wie kann man sagen, so und so viel Geld entspricht dem Wert deines Sohnes?", klagt die Mutter eines damals getöteten Feuerwehrmannes. Feinberg weiß die unbefriedigende Antwort – er hat die Formeln erfunden, mit denen ermittelt wird, wie die Hinterbliebenen von Opfern entschädigt werden. Das Einkommen, das der Tote in seinem Leben verdient hätte, wird dabei hochgerechnet: "Wenn ein Börsenmakler hinfällt, wird das teurer als bei einem Feuerwehrmann."

Und doch dauert es in Jurschicks Film nicht lange, bis sich Menschen positiv über Feinbergs Arbeit äußern – aus purer Not. Die Angehörigen brauchen dringend Geld, um mit den ganz praktischen Folgen des Todes eines geliebten Menschen zurechtzukommen. Da gibt es Rechnungen, Kredite, die bedient werden müssen, Hypotheken aufs Haus. Sie hätten gar nicht die Mittel, jahrelang prozessieren zu können. 25.000 Dollar gibt es vielleicht im Falle des Feuerwehrmanns aus New York – ein Betrag hochgerechnet auf ein ganzes, nicht gelebtes Leben.

Oft steht Feinberg sogar auf der Gehaltsliste großer Unternehmen. Bei den Schäden, die das Unglück auf der Ölplattform Deepwater Horizon im mexikanischen Golf 2010 verursachte, leitete er eine ganze Entschädigungsfirma mit 4.000 Mitarbeitern und einem Entschädigungsfonds von 20 Milliarden US-Dollar. Gezahlt wird an die, die eine Klage von sich aus ausschließen, bzw. sie sich nicht leisten können. Einen Interessenkonflikt sieht Feinberg dabei nicht. "Die Unternehmen wollen die Unwägbarkeiten des amerikanischen Justizsystems umgehen", sagt er. Und die Geschädigten könnten immerhin mit relativ schneller Hilfe rechnen. "Das System funktioniert, aber garantiert nur vage Gerechtigkeit", sagt Feinberg. "In unserer Gesellschaft ist es das Geld, das Unrecht zumindest lindern soll."

Der Film ist eine Tour de Force durch die großen und größeren Katastrophen unserer Zeit. Amokläufe, Hurricane Katrina, Dieselskandal. Er zeigt, welche begrenzten Möglichkeiten der Kapitalismus bietet, um so etwas wie Gerechtigkeit herzustellen.

Und der Mensch Feinberg? Für sich selbst sieht er die Welt der Oper als Fluchtort, er sammelt Arien; die Arbeit mit dem Elend geht nicht spurlos an ihm vorbei. Er weiß um die moralische Diskrepanz, die eine finanzielle Entschädigung darstellt. Der Filmtitel "Playing God" wirkt nicht überzogen. Deutlich wird dies zum Beispiel spät abends, in Feinbergs Küche: Der Gott im Kapitalismus ist ein müder Mann mit Strickjacke, der nach einem langen Arbeitstag seinen hungrigen Kopf in den Kühlschrank steckt. "Playing God" ist ein zutiefst philosophischer Film.

"Playing God". D 2017. Regie: Karin Jurschick. Kinostart: 8. Februar 2018

Film- und Musiktipps

Der Mensch Allende

Was für ein Mensch war Salvador Allende? Nicht einmal seine Familienangehörigen wissen das genau: Der erste demokratisch gewählte sozialistische Präsident Chiles, der 1973 durch einen Putsch des späteren Diktators Augusto Pinochet entmachtet wurde und sich infolgedessen vermutlich umbrachte, wird von seiner Enkelin Marcia Allende zum Kinostar der Gegenwart gemacht. Die Geschichte ist nicht zu Ende; immer noch stehen Allendes Verwandte und Weggefährten, die die Regisseurin für ihren Dokumentarfilm interviewt, im Bann jener Tage der Machtergreifung und der Militärherrschaft. Und sie spüren ihren Erinnerungen nach: Nicht weniger als eine neue Gesellschaft hatte Allende erschaffen wollen, mit anderen Machtverhältnissen als sie die damals herrschende Feudalordnung vorsah. Ein offenes Zusammenleben – das sich nur zu bald in den grausamen Faschismus Pinochets verwandelte. Der Film hat eine sehr persönliche Note: Weltpolitik wird als besonderes Kapitel einer Familiensaga gezeigt. Und Marcia Allende ist eine akkurate Filmerin. So sind oft eher beiläufige Sequenzen besonders aussagekräftig: Etwa wenn der Abriss des Hauses gezeigt wird, in dem Allende ­seine Kindheit verbrachte. Die Spuren seines Lebens, sie ­verschwinden. Dass es seine Enkelin ist, die hier Regie führt, macht die Geschichte authentisch, erlebbar. Ein wertvoller, ein facettenreicher Film.

"So war mein Großvater Salvador Allende". CHL/Mex 2015. Regie: Marcia Tambutti Allende. Kinostart: 1. Februar 2018

Girls don't fly

Träume so groß wie ein Flugfeld – davon will der Film "Girls Don’t Fly" erzählen. Doch der Titel deutet es schon an: Ohne Schwierigkeiten wird das nichts. Ein paar junge ghanaische Frauen wollen mit Hilfe eines britischen Flugzeugingenieurs ihr Leben selbst in die Hand nehmen. An der ersten und einzigen Flugschule Ghanas für Mädchen sollen sie, die allesamt aus armen Verhältnissen stammen, in vier Jahren zu Pilotinnen ausgebildet werden. So zumindest steht es auf der Website des Vereins. Mit seiner Flugschule möchte er Mädchen aus ländlichen Gebieten eine Zukunft geben – und damit am besten die ghanaische Gesellschaft oder sogar ganz Westafrika verändern. Die Realität sieht anders aus: Die jungen Frauen erhalten alle eine Nummer und werden auch nur noch als solche angesprochen. Meist jäten sie das Unkraut auf dem Flugfeld. Ob sie jemals abheben werden, steht in den Sternen. Regisseurin Monika Grassl flankiert ihren sehr schrägen Postkolonialismus-Dokumentarfilm mit Interviews der An­gehörigen der Mädchen. "Wir hätten länger Kolonie bleiben sollen", meint eine ältere Gesprächspartnerin. Dann würde es auch mit Bildung und Ausbildung besser klappen. Und: "Bei den Großeltern gab es noch Disziplin." Obwohl die eigentlich auch bei den jungen Frauen vorhanden ist. Grassls vielfach ausgezeichneter Film wirft ein Licht auf das seltsame Bemühen und nicht zuletzt die Träume heutiger Entwicklungshelfer.

"Girls Don’t Fly". D/A 2016. Regie: Monika Grassl. DVD, 14,99 Euro

Moderne Moritaten

Autoritäre Nationalismen sind im Aufwind, die Linke ist in der Krise, die soziale Ungleichheit nimmt zu: Die Vergangenheit wirkt derzeit sehr gegenwärtig. Da klingen die alten Arbeiterlieder und sozialkritischen Moritaten, die Daniel Kahn aus den Archiven kramt, plötzlich wieder brandaktuell. Nahtlos gehen sie in seine eigenen Kompositionen über, die Klezmer und Kurt Weill, Tom Waits und Woody Guthrie anklingen lassen. 2005 verschlug es Daniel Kahn von Detroit nach Berlin, wo er heute als Musiker und Musikkurator am Gorki-Theater arbeitet und sich in unzähligen Projekten engagiert. Auf seinem fünften Album "The Butcher’s Share" klingt Daniel Kahn wieder kämpferischer und zorniger als zuletzt, zugleich weht ein Hauch apokalyptischer Endzeitstimmung. Mit erweiterter Band und Gastmusikern wirbelt Kahn Klezmer und Punk, Americana und Kunstlied, Rock und Brecht-Chanson wild durcheinander, lässt schluchzende Klezmer-Geigen auf Folk-Mundharmonika treffen und mischt Englisch mit Jiddisch und augenzwinkerndem schwarzem Humor. Die Ballade "Arbeter Froyen" ist über hundert Jahre alt, eine Ode an die Fabrikarbeiterinnen des Industriezeitalters, sie könnte aber auch den Working Poor von heute gewidmet sein. Der Song "99% – Nayn-Un-Nayntsik" greift das Motto der Occupy-Wallstreet-Bewegung auf. Und der rumpelnde Gassenhauer "Freedom is a verb" ist als Aufforderung zu verstehen, aktiv zu werden für die Freiheit. Denn so lange Menschen für eine bessere Welt kämpfen, besteht noch Hoffnung.

Daniel Kahn & the Painted Bird: The Butcher’s Share (Oriente)

Ornamentaler Groove

Vor mehr als 30 Jahren wurde der Musiker Gili Yalo mit seiner Familie im Rahmen der "Operation Moses" aus dem ­Sudan ausgeflogen. Im Jahr 1984 nahm die israelische Regierung rund 8000 äthiopische Juden aus den Flüchtlingslagern im Südsudan auf, wohin diese vor einer Hungersnot im benachbarten Äthiopien geflohen waren. Auf dem langen Fußmarsch durch die Wüste hatten sie sich durch Lieder gegenseitig Mut gemacht und am Leben gehalten. Als Solomusiker greift Gili Yalo heute mit seiner Band auf jene äthiopischen Weisen zurück. Die aktuell höchst populären Ethio-Jazz-Melodien verbindet er mit Reggae, Soul und Funk-Beats, mit Keyboard-Orgelklängen und orientalischen Trompeten-Ornamenten zu einem unwiderstehlichen Groove. Dazu singt er, auf Englisch und Amharisch, über sein Bild von Afrika und den urbanen Alltag in Israel. Die beiden Produzenten Beno Hendler (Balkan Beat Box) und Uri Brauner Kinrot (Boom Pam) haben den Stücken einen ordentlichen Wumms gegeben. Flüchtlingen aus Afrika, die es in den vergangenen Jahren auf eigene Faust nach Israel geschafft haben, ist weniger Glück als Gili Yalo beschieden: Tausende von ihnen wurden in Flüchtlingslagern in der Negev-Wüste ­kaserniert. Die israelische Regierung will diese Menschen, überwiegend Eritreer und Sudanesen, jetzt abschieben.

Gili Yalo: Gili Yalo (Dead Sea)

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