Amnesty Journal 22. September 2020

Nicht ablenken!

In der Zeichnung beobachtet ein Blauhelm-Soldat der UNO, wie sich zwei Parteien von Soldaten gegenüberstehen und bekämpfen.

Wahrung des Weltfriedens: Eine der Hauptaufgaben der Vereinten Nationen

Es gibt viel zu kritisieren am UN-Menschenrechtsrat. Und doch muss man ihn 75 Jahre nach der Gründung der UNO unbedingt verteidigen.

Ein Kommentar von Silke Voß-Kyeck

Im Oktober wählt die UN-Generalversammlung 15 neue Mitglieder in den Menschenrechtsrat. Während dieses Gremium sonst in den Medien wenig Beachtung findet, wird die öffentliche Empörung dann groß sein. Denn zur Wahl stehen auch China, Russland und Saudi-Arabien, deren Regierungen wohl kaum unterstellt werden kann, sie verfolgten die ehrliche Absicht, für den Schutz der Menschenrechte aller und überall einzutreten. Wie kann es sein, dass Staaten mit einer solch katastrophalen Menschenrechtspraxis in diesem Gremium Platz finden?

Das darf nicht sein, fordern Vertreter der reinen Lehre. Sie dürften jedoch große Schwierigkeiten haben, die 47 Sitze des Gremiums mit Staaten zu besetzen, die bei den Menschenrechten eine blütenweiße Weste aufweisen. Das kann nicht sein, schafft den Rat ganz ab, rufen verbittert Enttäuschte, ohne eine Alternative anbieten zu können. Das soll nicht sein, kritisieren Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty, die mit Kampagnen versuchen, zumindest das Schlimmste zu verhindern.

Dilemma des Menschenrechtsschutzes

Dass Staaten einerseits kooperieren müssen und andererseits zwangsläufig nationale Interessen verfolgen, ist seit jeher das Dilemma des UN-Menschenrechtsschutzes, und in der Zusammensetzung der UN-Organe wird es besonders sichtbar.

Bereits die 1946 eingesetzte Menschenrechtskommission wurde wegen ihres politisierten und selektiven Handelns kritisiert, wofür maßgeblich ihre Mitglieder verantwortlich gemacht wurden. Die Kritik führte dazu, dass die Kommission 2006 durch den Menschenrechtsrat ersetzt wurde. Die formalen Hürden für die Mitgliedschaft wurden angehoben. Laut Gründungsresolution 60/251 müssen die Mitglieder nun höchsten Menschenrechtsansprüchen gerecht werden und mit dem Rat uneingeschränkt zusammenarbeiten. Die Generalversammlung soll bei der Wahl der Mitglieder deren Beitrag zum Menschenrechtsschutz sowie freiwillige Zusagen und Verpflichtungen berücksichtigen. Diese "weichen" Kriterien scheitern in der Praxis größtenteils daran, dass nur genauso viele Kandidaten zur Wahl stehen wie freie Plätze existieren. Vorbehalte können über eine niedrige Zahl von Ja-Stimmen bei der Wahl dokumentiert werden. Auch westliche Staaten verweigern sich oft der Konkurrenz und handeln zuvor intransparent sichere Kandidaturen aus.
Dennoch ist es bereits gelungen, Staaten mit einer kritischen Menschenrechtsbilanz von Kandidaturen abzubringen (z. B. Iran) oder durchfallen zu lassen (z. B. Russland), indem ­andere Staaten zu Gegenkandidaturen ermuntert wurden.

Öffentliche Empörung

Einzelne Mitglieder des Menschenrechtsrats bieten zweifellos Anlass für öffentliche Empörung, doch muss man zur Kenntnis nehmen, dass der Rat ein politisches Gremium ist, dessen Mitglieder entsprechend der auch für die Generalversammlung ­geltenden regionalen Sitzverteilung gewählt werden. Was demokratische Standards angeht, ist der Menschenrechtsrat beispielsweise dem UN-Sicherheitsrat voraus. Für Resolutionen des Menschenrechtsrates sind politische Mehrheiten erforderlich. Sie werden überwiegend einstimmig angenommen. Nur so besteht eine Chance, dass die unverbindlichen Beschlüsse und Empfehlungen tatsächlich auch umgesetzt werden.

Das auf Kooperation ausgerichtete Instrumentarium des Gremiums würde keinen Sinn ergeben, wenn nur die "Guten" im Rat über die "Bösen" außerhalb des Rates richten würden. Ohne den Menschenrechtsrat gäbe es weder die Vertragsausschüsse, in denen Expertinnen und Experten über die Einhaltung der Menschenrechtsverträge wachen, noch die vielen Sonderberichterstatterinnen und Sonderberichterstatter, die ebenfalls unabhängig sind und Menschenrechtsprobleme gegen alle Widerstände aufzeigen. Diese ergänzende Zusammenarbeit macht den Kern des UN-Menschenrechtsschutzes aus.

Es gibt viel zu kritisieren am Menschenrechtsrat, aber die oberflächliche Diskussion um einzelne Mitglieder diskreditiert ihn unnötig. Sie lenkt ab von den Erfolgen, die er trotz allem ­erreicht hat und die in Zeiten, in denen der Multilateralismus unter Druck steht, nicht oft genug betont werden können.

Silke
Voß-Kyeck
UN-Expertin und Berichterstatterin für das Forum Menschenrechte

 

Die Kritik übersieht auch leicht, dass ein Staat gar nicht ­Mitglied des Menschenrechtsrates sein muss, um Resolutionen einzubringen und Entwicklungen zu beeinflussen. China hat es gerade wieder vorgemacht und eine Initiative vorangetrieben, die Menschenrechte zum Gegenstand freundlicher Staaten­kooperation machen will. Der Gegensatz ist eine einklagbare staatliche Verpflichtung. Dieser gefährlichen Resolution hat eine Mehrheit der Ratsmitglieder zugestimmt. Umgekehrt muss ein Mitgliedsstaat nicht groß und mächtig sein, um etwas zu bewirken. So hat das "kleine" Island 2019 mit seiner Hartnäckigkeit für eine Resolution zu Menschenrechtsverletzungen auf den Philippinen gesorgt. Und schließlich bewahrt eine Mitgliedschaft auch nicht davor, vom Rat kritisch beurteilt zu werden, wie es zuletzt die Philippinen erfahren mussten.

Engagement statt Rückzug

Zweifellos werden politische Auseinandersetzungen im Menschenrechtsrat härter und die Erfolgsaussichten düsterer, wenn Russland, China und Saudi-Arabien gewählt werden und sich zu Ländern wie Pakistan oder Venezuela gesellen.

Doch statt Rückzug ist Engagement das Gebot der Stunde. Wichtig sind Kampagnen von NGOs, die die Menschenrechtsbilanz von Kandidatenstaaten den Kriterien für die Ratsmitgliedschaft schonungslos gegenüberstellen und alle Staaten dazu auffordern, diese Kriterien bei der Wahl ernstzunehmen. Solche Kampagnen brauchen Unterstützung, denn sie erhöhen den ­öffentlichen Rechtsfertigungsdruck erheblich. Vor allem aber bedarf es der Courage anderer Staaten, sich im Rat hartnäckig und diplomatisch klug für eine konsequente Benennung von Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Die Menschenrechtsfeinde im Gremium können dann weniger Schaden anrichten, wenn andere Mitglieder sich den Angriffen auf Menschenrechtsnormen und -instrumente entgegenstellen.

Es gibt viel zu kritisieren am Menschenrechtsrat, aber die oberflächliche Diskussion um einzelne Mitglieder diskreditiert ihn unnötig. Sie lenkt ab von den Erfolgen, die er trotz allem ­erreicht hat und die in Zeiten, in denen der Multilateralismus unter Druck steht, nicht oft genug betont werden können.

Silke Voß-Kyeck analysiert für das Forum Menschenrechte die Entwicklungen im UN-Menschenrechtsrat. Sie arbeitet im Deutschen Institut für Menschenrechte zum Thema Verschwindenlassen.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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