Amnesty Journal Afghanistan 14. August 2023

Land ohne Wirtschaft

Afghanische Bauern laufen über ein trockenes Weizenfeld und versuchen einen Schwarm von Heuschrecken zu vertreiben, indem sie ihre Arme ausbreiten und mit Tüchern wedeln.

Der internationale Zahlungsverkehr ist unterbunden, die Arbeitslosigkeit gestiegen, Investoren haben sich zurückgezogen, und Ernten sind vernichtet. In Afghanistan leiden Millionen Menschen an Hunger.

Von Annette Jensen

Die Lage ist schlechter als je zuvor", sagt Ahmad Shah Aminzai, Projektkoordinator der Organisation Save the Children in Afghanistan. Und der scheidende Chef des UN-Welt­ernährungsprogramms David Beasley twitterte im März: "Millionen Menschen in Afghanistan stehen vor Hunger und Auszehrung." Nach Angaben der UNO ­leben 97 Prozent der afghanischen Bevölkerung in Armut. Die Gründe für die dramatische Lage sind vielfältig.

Im August 2021 übernahmen die Taliban die Macht. Internationale Truppen, diplomatische Vertretungen und auch viele Nichtregierungsorganisationen verließen fluchtartig das Land. Afghanistan wurde weitgehend isoliert und vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten. Vermögen in Höhe von umgerechnet mehreren Milliarden Euro aus der Staatskasse wurden in den USA und der Schweiz eingefroren.

Armut breitet sich aus

"Viele Leute haben ihr Gehalt verloren und kaum Geld, um sich genügend essen zu kaufen", berichtet Stefan Recker von der Caritas, der seit 1995 in Afghanistan lebt. Zehntausende Menschen, die für ausländische Organisationen oder Truppen auf Militärbasen, in Büros oder als Übersetzer*innen gearbeitet hatten, verloren ihre Stellen. Gut ausgebildete Menschen verließen das Land. Auch das Einkommen vieler Frauen brach weg, seit ihnen verboten wurde, bei internationalen Organisationen zu arbeiten. Lehrerinnen verloren ihre Arbeit, weil Mädchen nur noch bis zur sechsten Klasse unterrichtet werden dürfen. "Die meisten Baustellen liegen brach, kaum jemand will hier noch investieren", sagt Recker. Immer mehr Bettler bevölkern die Straßen. Und die Plätze, auf denen Handwerker und Tagelöhner auf Jobangebote warten, werden immer voller. "Viele Familien können sich nicht einmal mehr ausreichend Brot und Wasser leisten", sagt Aminzai von Save the Children.

Etwa 28 der 40 Millionen Einwoh­ner*in­nen Afghanistans sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben. Auf dem Land, wo etwa 70 Prozent der Bevölkerung leben, ist die Situation noch schlechter als in den Städten. Binnengeflüchtete, die bereits seit Jahrzehnten in riesigen Lagern leben, sind vollständig von der Unterstützung durch Hilfsorganisationen abhängig.

Einen Großteil unserer Arbeit können wir ohne Frauen nicht leisten.

Ahmad Shah
Aminzai
Projektkoordinator Save the Children in Afghanistan

"Einen Großteil unserer Arbeit können wir ohne Frauen nicht leisten", berichtet Aminzai. Aus kulturellen Gründen ist es ausgeschlossen, dass ein fremder Mann irgendwo an die Tür klopft und die Bewohnerinnen fragt, welche Unterstützung sie benötigen. "Wir beziehen sehr deutlich Stellung gegenüber den Taliban und machen ihnen klar, dass wir das Arbeitsverbot der Frauen nicht akzeptieren", sagt der Geschäftsführer der NGO, Florian Westphal, der Ende 2022 zuletzt in Afghanistan war. Es sei durchaus möglich, mit den Machthabern zu diskutieren. Dank jahrzehntelanger Kontakte zu Autoritäten auf Lokal- und Provinzebene habe Save the Children viele Projekte wieder aufnehmen und dabei auch Kolleginnen einsetzen können. Schließlich litten auch die Familien vieler Taliban unter der Lebensmittelkrise, und die Versorgung der Bevölkerung sei vielen ihrer Anhänger nicht egal. Aber natürlich ist die Situation "wackelig", räumt Westphal ein. 4.500 Menschen arbeiten für Save the Children in Afghanistan. Bisher musste die Organisation niemanden entlassen.

Bereits seit Jahrzehnten ist Afghanis­tan auf Lebensmittelimporte angewiesen. In den 20 Jahren vor dem überstürzten Truppenabzug hingen 70 Prozent der Staatsausgaben und 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vom Ausland ab, erklärt Recker von der Caritas. Die Bevölkerung wächst rasant. In den 1960er Jahren lebten in Afghanistan neun Millionen Menschen, heute sind es etwa 40 Millionen. Die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre. Zwar sind in manchen Regionen im Norden drei Ernten im Jahr möglich, doch sind weite Teile des Landes eine Hochgebirgswüste, und Landwirtschaft ist überwiegend auf die Täler beschränkt. Angebaut wird vor allem Weizen für Brot, das Hauptnahrungsmittel. Produziert werden aber auch Reis, Mais, Melonen, Gemüse und Ölsaaten. Granat­äpfel und Zwiebeln werden zum Teil nach Indien, Pakistan, in den Iran und weitere Länder exportiert. Eine andere Einnahmequelle war und ist der Opiumhandel, der nach Angaben des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung seit 2022 wieder zugenommen hat. Der Heroin-Rohstoff aus Afghanistan dominiert den illegalen Weltmarkt.

Viele afghanische Familien besitzen nur wenig Land. Aufgrund des Erbrechts werden die Flächen unter den Söhnen geteilt, sodass die Erntemengen immer seltener zum Überleben ausreichen. Hinzu kommen die Konflikte zwischen verschiedenen Ethnien, die sich immer wieder gegenseitig vertreiben. Gegenwärtig haben die Paschtunen die Oberhand, aus ­denen sich die Taliban rekrutieren und zu denen auch nomadische Stämme zählen. Sie waren vor 20 Jahren von den Hazara aus dem zentralen Hochland vertrieben worden – seit Sommer 2021 läuft es verstärkt umgekehrt.

Dürre und Fluten

All diese Probleme werden durch die ­Klimakrise noch verschärft. So hat Afghanistan in den vergangenen drei Jahren die schlimmste Dürre seit Jahrzehnten durchlitten. Wasserquellen versiegten, die Preise für Vieh schnellten in die Höhe. Im August 2022 fielen dann die Monsun-Regenfälle im Osten des Landes wesentlich heftiger aus als üblich und vernichteten die Ernte auf vielen Feldern. Im März 2023 kam ein schweres Erdbeben in der gesamten Region hinzu.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer sind die aktuellen meteorologischen Daten. Die Schneeschmelze hat die Flüsse gefüllt, und endlich gab es auch ausreichend Regen im Frühjahr. Doch ausgerechnet das sind zugleich beste Voraussetzungen für die nächste Katastrophe: In acht nördlichen Provinzen und damit in der Kornkammer Afghanistans breitet sich die marokkanische Heuschrecke aus. Dürre, Überweidung und die passende Niederschlagsmenge im März und April sind ideale Voraussetzungen für die zwei bis vier Zentimeter langen Insekten. Die gefräßigen Tiere zählen zu den wirtschaftlich bedrohlichsten Schädlingen weltweit. Bei einer Plage vor 20 Jahren wurden acht Prozent der Weizenernte in Afghanistan, vor 40 Jahren sogar 25 Prozent vernichtet, meldet die Welternährungsorganisation FAO. Sie finanziert derzeit Programme, damit die Landbevölkerung die Tiere in einem frühen Entwicklungsstadium tötet.

Im vergangenen Jahr appellierte die UNO an die Weltgemeinschaft, 4,4 Milliarden Euro zur Bekämpfung der humanitären Katastrophe in Afghanistan zur Verfügung zu stellen – doch nur ein Bruchteil dessen kam zusammen. In diesem Jahr sieht es nicht besser aus. Was völlig fehlt, ist eine Perspektive, sagt Recker. "Nothilfe kann ja keine Wirtschaft ersetzen."

Annette Jensen ist Autorin und Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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