Aktuell Deutschland 09. November 2019

Reichspogromnacht: Aufrichtiges Gedenken erfordert Handeln gegen Antisemitismus und Rassismus

Eine Gruppe von mehr als 50 Personen steht eng gedrängt auf einem Platz. Viele Personen halten Plakate hoch. Eine Frau und ein Mann stehen vor der Gruppe und halten vor sich ein Amnesty-Banner mit der Aufschrift "Glaub was du willst! Religionsfreiheit ist Menschenrecht".

Einen Monat nach dem antisemitischen und rassistischen Terroranschlag an Jom Kippur in Halle jähren sich heute die Pogrome von 1938. Mit Mahnwachen und Veranstaltungen wird vielerorts dieses Tages gedacht.

"Ein aufrichtiges Gedenken erfordert ein konsequenteres Handeln im Hier und Jetzt", mahnt Amnesty-Generalsekretär Markus N. Beeko. "Jüdinnen und Juden in Deutschland vor antisemitistischer Gewalt zu schützen, ist eine zentrale menschenrechtliche rechtstaatliche Verpflichtung der deutschen Behörden. Dazu gehört selbstverständlich auch, Muslima und Muslime, Geflüchtete und People of Colour vor rassistischen Übergriffen zu schützen. Dies muss – 70 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes – unsere gesellschaftliche Lehre des 9. November 1938 sein. Wir können die Menschenrechte nur dann wirksam verteidigen, wenn sich auch alle dafür verantwortlich fühlen. Wir alle müssen aktiv werden, wenn wir Zeug_innen von Antisemitismus werden."

Dass Menschen, die aus rassistischen Gründen morden, zugleich antisemitischen Verschwörungstheorien anhängen, hätte niemanden in Politik oder Behörden überraschen dürfen. Die Selbstenttarnung des sogenannten NSU, die Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke, der Brandanschlag auf die Wohnung eines jüdischen Ehepaares bei Hannover und zahlreiche frühere Anschläge auf jüdische Einrichtungen: Das alles war bekannt.

Erst vor kurzem hatten der Bundesinnenminister und auch Sicherheitsbehörden vor der hohen Gewaltbereitschaft rassistischer Extremist_innen gewarnt. Dennoch war die Synagoge in Halle – entgegen dem Wunsch der Gemeinde – am höchsten jüdischen Feiertag ohne Polizeischutz. Und trotzdem hatte die Bundesregierung das Budget für Initiativen gegen Rassismus und Antisemitismus gekürzt. Dies geht einher mit einer medialen Berichterstattung, die antisemitischen und rassistischen Positionen zunehmend mehr Raum gewährt und zur Normalisierung von menschenrechtsverletzenden Positionen beiträgt.  Und nicht nur in den Medien, sondern auch im politischen Diskurs werden unverantwortliche Positionen zunehmend salonfähig.

Der Einsatz gegen Ausgrenzung und Antisemitismus braucht einen langen Atem und kostet Geld. Diese Feststellung ist abgegriffen, weil sie so oft, und leider oft vergeblich, wiederholt werden muss. Amnesty selbst nimmt keine Mittel von Regierungen an, fordert aber von der Bundesregierung – wie auch der NSU-Untersuchungsausschuss 2013 – die zivilgesellschaftliche Arbeit gegen Rassismus und Antisemitismus finanziell verlässlich und ausreichend auszustatten. Dass nach dem Anschlag in Halle die Kürzungen zurückgenommen wurden, ist gut. Kurzfristiger Aktionismus reicht aber nicht aus. Es braucht ein grundsätzliches Umdenken.

"Menschenrechte müssen fortlaufend geschützt und als Grundlage unseres Zusammenlebens gestärkt werden", so Amnesty-Generalsekretär Beeko. "Gewalt, ob gegen Juden, Muslime oder People of Colour, ist Gewalt gegen uns alle. Sie muss klar benannt, dokumentiert, ermittelt und verfolgt werden. Bedrohungsmeldungen wie die der jüdischen Gemeinde in Halle müssen ernst genommen werden: Jüdinnen und Juden in Deutschland müssen, wie jede besonders bedrohte Gruppe, auf den besonderen Schutz durch den Rechtsstaat und uns alle vertrauen können. Polizei und Justiz müssen geschult werden, damit sie antisemitische Taten zuverlässig als solche erkennen und ahnden. Bei der Konzeption und Umsetzung solcher Maßnahmen sollen jüdische Institutionen und Expert_innnen eingebunden werden."

Nicht nur der Staat ist gefragt, gegen Antisemitismus einzuschreiten. Zivilcourage braucht es von uns allen. Das Allein-Lassen, Schweigen und Wegschauen verstärkt die mögliche Traumatisierung und ermutigt Täter_innen. Zu widersprechen und einzuschreiten, ohne sich oder andere unnötig in Gefahr zu bringen, kann geübt und erlernt werden. Denn wir alle sind gefragt, unseren Staat zu drängen, seinen menschenrechtlichen Kernverpflichtungen gerecht zu werden, und selbst einzuschreiten, wo wir Zeug_innen von Antisemitismus oder Rassismus werden.

Text: Amnesty-Taskforce gegen Antisemitismus

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