Aktuell Russische Föderation 19. Juni 2012

Die Straflosigkeit im Nordkaukasus muss beendet werden

Die Ehefrau von Israil Torshkhoev zeigt Fotos ihres Mannes, der im November 2010 verhaftet und seitdem nicht mehr gesehen wurde

Die Ehefrau von Israil Torshkhoev zeigt Fotos ihres Mannes, der im November 2010 verhaftet und seitdem nicht mehr gesehen wurde

"Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich diejenigen Eltern beneide, die die Leichen ihrer Kinder finden."

Boris Ozdoev, Vater eines Opfers des Verschwindenlassens

21. Juni 2012 - Amnesty International fordert die russische Regierung in einem neuen Bericht dazu auf, die Sicherheitskräfte stärker zur Verantwortung zu ziehen, da diese mit ihrer brutalen Reaktion auf die Aktivitäten bewaffneter Gruppen zur Unsicherheit in der Region beitragen.

Der Bericht "The circle of injustice: Security operations and human rights violations in Ingushetia" dokumentiert Menschenrechtsverletzungen wie rechtswidrige Tötungen, Verschwindenlassen und Folter. Auch wenn der Bericht sich auf eine Teilrepublik im Nordkaukasus konzentriert, gelten die im Bericht vorgestellten Erkenntnisse für die gesamte Region.

"Die Situation im Nordkaukasus wird in den letzten Jahren von der nationalen und internationalen Öffentlichkeit immer weniger wahrgenommen, doch kommt es dort weiterhin ungehindert zu schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, die praktisch unbestraft bleiben. Es müssen jetzt ernsthafte Anstrengungen unternommen werden, um rechtstaatliche Prinzipen durchzusetzen und gegen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen, die von Sicherheitkräften außerhalb jeglicher Kontrolle begangen werden. Davon hängt die langfristige Sicherheit in der Region ab", sagt John Dalhuisen, Direktor des Europa und Zentralasien Programms von Amnesty International.

Schätzungen zufolge wurden seit 2002 mehr als 200 Menschen von bewaffneten und maskierten Personen entführt. Niemand wurde in Inguschetien oder in der gesamten Region des Nordkaukasus jemals für ein solches Verschwindenlassen zur Rechenschaft gezogen.

Jedes Jahr werden in Inguschetien Vorwürfe wegen rechtswidriger Hinrichtungen erhoben, viele davon sollen im Rahmen von Sicherheitsoperationen begangen worden sein. Doch bisher wurde nicht ein einziger Fall vor einem Gericht verhandelt.
Sicherheitsoperationen werden unter den Bedingungen der Geheimhaltung durchgeführt, was Menschenrechtverletzungen Tür und Tor öffnet.

Menschenrechtsverletzungen werden oft von Sicherheitskräften begangenen, die Masken und keine Kennzeichen tragen, die eine Identifizierung ermöglichen würden und zudem Fahrzeuge ohne Nummernschilder benutzen. Diese Praxis sowie die komplexe und undurchsichtige Struktur der im Nordkaukasus operierenden Sicherheitskräfte ermöglicht es den Behörden, die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen zu leugnen.

"Es ist, als sei ein Schleier über die Aktivitäten von Sicherheitskräften im Nordkaukasus gezogen worden", sagt John Dalhuisen. "Manchmal sind Ermittler und Staatsanwälte nicht dazu in der Lage, die Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Oft scheinen sie dazu jedoch gar nicht willens zu sein, denn offensichtliche Ermittlungsstränge werden fallen gelassen oder nicht wirksam verfolgt. Dies stellt die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Ermittlern und Staatsanwälten in Frage."

Trotz strafprozessualer Reformen, die nach dem Ende der Sowjetunion vorgenommen worden sind, und der Einführung verfahrensrechtlicher und praktischer Sicherheitsmaßnahmen gegen Folter, gibt es überwältigendes Beweismaterial dafür, dass Folter noch immer weit verbreitet ist und von Polizeibeamten dazu genutzt wird, um Geständnisse und Zeugenaussagen zu erpressen.

Zelimkhan Chitigov, ein junger Tschetschene, wurde im April von etwa 30 bewaffneten Männern entführt und mit einer Plastiktüte über seinem Kopf und mit hinter seinem Rücken gefesselten Händen an einen unbekannten Ort gebracht. Nachdem er sich weigerte, terroristische Aktivitäten zu gestehen, wurde er geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert. Ihm wurden die Zehennägel ausgerissen, seine Haut wurde mit einer Zange traktiert und er wurde an Metallstäben aufgehängt. Später erfuhr Zelimkhan Chitigov, dass er im dem Innenministerium unterstehenden Zentrum für Extremismusbekämpfung in der Stadt Nazran gefoltert worden war. Als er endlich vor einen Richter gebracht wurde, konnte Zelimkhan Chitigov nicht mehr laufen und brach im Gerichtssaal zusammen. Er wurde ins Krankenhaus gebracht und verbrachte dort zwei Monate unter Bewachung.

Schließlich wurde er entlassen, erhielt aber Reisebeschränkungen. Zu diesem Zeitpunkt konnte er nicht mehr laufen und nicht mehr sprechen, zudem litt er unter häufig auftretenden Panikattacken. Eine Diagnose ergab Verletzungen des Kopfes, der Wirbelsäule und der inneren Organe. Im Juli 2010 wurde eine Untersuchung seiner Vorwürfe im Hinblick auf Folter und geheime Haft eingeleitet; das Verfahren dauert noch an.

"Zelimkhan Chitigov ist einer von vielen, die in Inguschetien geschlagen und gefoltert wurden. Sein Fall ist nur insofern einzigartig, als dass es der einzige Fall ist, in dem einer der Verantwortlichen angeklagt wurde – doch die Anklage umfasst lediglich die geheime Haft, nicht aber die Foltervorwürfe", berichtet John Dalhuisen.

"Im Moment ruht die einzige Hoffnung auf eine unabhängige gerichtliche Untersuchung für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus auf dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg – ein Prozess, der Jahre dauert und sich oft als gefährlich für die Kläger erwiesen hat. Die russischen Behörden müssen die Gerechtigkeit nach Hause bringen," sagt John Dalhuisen.

"Niemand steht über dem Gesetz, schon gar nicht diejenigen, deren Aufgabe es ist, das Gesetz zu hüten. Die russischen Behörden müssen eine Politik der "Nulltoleranz" gegenüber Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte entwickeln, indem sie unverzügliche und unparteiische Untersuchungen einleiten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen."

Lesen Sie hier den vollständigen englischsprachigen Bericht "The circle of injustice: Security operations and human rights violations in Ingushetia".

Hintergrund
Inguschetien ist der kleinste Bestandteil der Russischen Föderation und zählt 413.000 Einwohner. Es grenzt im Süden an Georgien, im Osten an Tschetschenien und im Westen an Nordossetien. Inguschetien ist eines der ärmsten Gebiete der Russischen Föderation und hat mit 47,7 Prozent die höchste Arbeitslosenrate. 91 Prozent des Haushalts speisen sich aus direkten Subventionen der Russischen Föderation.
In Folge des militärischen Konflikts in Tschetschenien in den 1990er Jahren strömten mehr als 100.000 Flüchtlinge nach Inguschetien. Als sich der Tschetschenienkonflikt auf die Nachbarrepubliken ausbreitete, nahmen in den letzten zehn Jahren auch in Inguschetien die Aktivitäten bewaffneter Gruppen zu und mündeten unter anderem in Mordversuchen an den Präsidenten Murat Zyazikov (April 2004) und Yunus-Bek Yevkurov (Juni 2009). Auch Zivilisten wurden zur Zielscheibe oder wurden getötet als sie zwischen die Fronten gerieten. Dies hatte zur Folge, dass unterschiedliche Sicherheitsorganen in der Republik aktiv wurden und regelmäßige, meist kleinere Sicherheitsoperationen durchführten.

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