Aktuell 13. April 2010

Philippe Lioret: Welcome

Kino mit hohem Wellengang
Schwimmlehrer Simon (Vincent Lindon) gibt Bilal (Firat Ayverdi) Unterricht

Schwimmlehrer Simon (Vincent Lindon) gibt Bilal (Firat Ayverdi) Unterricht

Dieser Film ist ein Politikum: In "Welcome" lässt Philippe Lioret einen kurdischen Migranten für die Überquerung des Ärmelkanals trainieren.

Bilal (Firat Ayverdi) ist 17 und stammt aus dem Irak. Er ist ein kurdischer Flüchtling und auf dem Weg nach London. Dorthin ist seine große Liebe Mina mit ihrer Familie emigriert. Der illegale Einwanderer ist jedoch vorerst in Calais hängen geblieben. Weil die Grenzbehörden die LKWs vor der Einfahrt in den Tunnel nach Großbritannien mit Geräten kontrollieren, die das Kohlendioxid der Atemluft aufspüren, ziehen sich die Flüchtlinge minutenlang Plastiktüten über den Kopf. Für Bilal ist die Vorstellung jedoch unerträglich, wurde er doch im Irak genau auf diese Weise tagelang gefoltert. Die letzte Hürde – den von Stürmen gepeitschten Ärmelkanal – muss er also anders überwinden.

Simon (Vincent Lindon) ist um die 50, Schwimmlehrer, und in einer Sinnkrise, weil er von seiner Frau verlassen wurde. Dass man mit Schwimmen etwas erreichen kann, weiß er: Im Wohnzimmerschrank liegt seine Olympiamedaille.

In Philippe Liorets Film "Welcome" laufen sich die beiden Protagonisten wie zwangsläufig über den Weg. Bilal will die 32 Kilometer bis zur britischen Küste schwimmen und muss dafür trainieren. Da ist er bei dem ehemaligen Olympioniken Simon, der sonst Grundschülern zeigt, wie man die Nase über Wasser hält, an der richtigen Adresse. Heimlich bringt dieser dem Flüchtling Kraultechniken bei und entwickelt Vatergefühle für den Jungen. Er bewundert auch die Kraft von Bilals Liebe zu Mina – etwas, das Simon in seiner eigenen Beziehung nicht mehr aufbringen konnte. Nebenbei entdeckt er die Stadt, in der er wohnt, und die Menschen, die sich darin bewegen.

Liorets Film ist in Geschichte, Inszenierung und vor allem Wirkung ein Edelstein im Menschenrechtskino: Er leuchtet das Leben der Illegalen aus, ihre Kämpfe mit den Behörden und ­untereinander. Der Film war sogar Gegenstand von Debatten in der französischen Nationalversammlung. Denn im französischen Recht gibt es einen Paragrafen aus dem Jahre 1945, der den Kontakt mit illegalen Einwanderern unter Strafe stellt. Lioret würde maßlos übertreiben, kritisierten Politiker – die den Film oft nicht einmal gesehen hatten.

Die ästhetische Kritik monierte, das Thema Migration diene bloß als Hintergrund für eine rührselige, von dramaturgisch wirkungsvollen Kniffen bestimmte Vater-Sohn-Geschichte. Hoher Wellengang für einen Film. Aber vielleicht ist es auch genau andersherum – und die anrührenden Elemente bilden den Einstieg in ein Thema, das allzu gern darauf reduziert wird, in illegalen Migranten teure Kostgänger zu sehen. In Loirets Film sind sie Menschen mit äußerst schwierigen Leben. "Es ist gut", sagt Lioret, "im Kino das Land, in dem man lebt, unter einem Aspekt zu entdecken, von dem man keine Ahnung hat".

Von Jürgen Kiontke, Amnesty Journal Oktober 2009

"Welcome". F 2008. Regie: Philippe Lioret, Darsteller: Firat ­Ayverdi, Vincent Lindon, u.a. Start: 12. November 2009

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