Amnesty Journal 22. Januar 2016

König KiK

Anwohner vor einer abgebrannten Textilfabrik in Karachi, 2012

Anwohner vor einer abgebrannten Textilfabrik in Karachi, 2012

In Pakistan starben 2012 bei einem Fabrikbrand Hunderte Menschen.Angehörige und Überlebende wollen den Textildiscounter KiK zur Rechenschaft ziehen.

Von Antoine Verbij

"KiK hat zum zweiten Mal eine Fristverlängerung für die Erwiderung unserer Klage beantragt. Das Unternehmen benötigt nach eigenen Angaben mehr Zeit zur Prüfung der Dokumente und Durchführung von Nachforschungen vor Ort", erklärt Remo Klinger zufrieden. "Diese Zeit gönnen wir ihnen: Wir sind uns sicher, dass wir ausgezeichnete Chancen haben. Ihr ­Angebot einer Entschädigung wurde von den Betroffenen einstimmig abgelehnt. Es war unerhört niedrig."

Klinger vertritt die Hinterbliebenen und Überlebenden des Brandes in der Textilfabrik "Ali Enterprises" in Pakistan im September 2012. Dabei starben mehr als 250 Menschen, zahlreiche weitere wurden teilweise schwer verletzt. Nach der Katastrophe wurden beträchtliche Sicherheitsmängel festgestellt: So waren vor den Fenstern Gitter angebracht, und um Diebe fernzuhalten, waren die Notausgänge blockiert.

"Die KiK-Manager müssen dies gesehen haben, als sie dort waren, um ihre Bestellungen aufzugeben. Ich selbst bin erst vor anderthalb Jahren dort gewesen, während der ersten Verhandlungen mit den Opfern. Ich habe gesehen, dass es unmöglich war, durch die Keller zu entkommen. Man muss kein Sachverständiger sein, um das festzustellen."

Der Fall ist einer der aufsehenerregendsten in Deutschland hinsichtlich Unternehmen, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind. Dank Klingers zahlreicher Kontakte zu Menschenrechtsorganisationen und zur Wirtschaft landet man schnell bei ihm, wenn es um Prozesse dieser Art geht. KiK gibt sich als schwieriger Gegner. Einerseits zeigt man sich bereitwillig, gleichzeitig verzögert das Unternehmen die Sache.

KiK hat immer behauptet, dass es lediglich 75 Prozent der Produktion von Ali Enterprises abnahm. Das Unternehmen hat inzwischen eine umfangreiche Klageerwiderung eingereicht. Darin geht es im Wesentlichen darum, dass KiK nicht für die Sicherheitsstandards bei Zulieferbetrieben haftbar gemacht werden könne, da nur eine Lieferantenbeziehung bestanden habe. Man habe sich allerdings mehrfach von Ali Enterprises bescheinigen lassen, dass Vorschriften eingehalten würden.

Laut Remo Klinger produzierte die Fabrik jedoch zu 100 ­Prozent für das deutsche Textilunternehmen. "KiK war dort der König, der Boss", sagt der Rechtsanwalt, "dafür haben wir hinreichende Beweise". Daher komme KiK eine besondere Verantwortung zu, stellt Klinger fest – und dieser Ansicht war KiK selbst auch: Nach der Katastrophe zahlte das Unternehmen eine Million US-Dollar Entschädigung. Vor kurzem beklagte Geschäftsführer Heinz Speet jedoch, dass die pakistanische Organisation, der die Million gezahlt wurde, nicht angebe, wo das Geld geblieben sei.

Klinger reichte die Klage im Frühjahr 2015 ein. Mittlerweile hat KiK den Hinterbliebenen und Überlebenden je Opfer ein paar Tausend Euro Schmerzensgeld angeboten. "Für die Betroffenen ist dies nicht akzeptabel. Es handelt sich um junge Leute um die 20. Es sind Männer und Frauen, die für ihre Familien die Haupternährer waren und die jetzt arbeitsunfähig sind.

Diese Familien haben keine Einkünfte. Es herrscht Arbeitslosigkeit, die Eltern haben keine Rente, und Sozialleistungen gibt es auch nicht", erklärt Klinger. Die Opfer haben sich in Absprache mit ihm einstimmig dafür entschieden, für vier Menschen – drei Hinterbliebene und einen Überlebenden – beim Landgericht Dortmund Klage ein­zureichen. In Bönen, unweit von Dortmund, hat KiK seinen Firmensitz. Ziel ist eine höhere Entschädigung, die es den Menschen ermöglicht, sich eine neue Existenz aufzubauen. Eine Klage für alle Opfer ist in Deutschland nicht möglich. Daher klagen zunächst stellvertretend vier Opfer.

Was den Prozessverlauf erheblich verzögert, ist die Tatsache, dass das Landgericht Dortmund den Fall nicht nach deutschem, sondern nach pakistanischem Recht behandeln muss. Dies führt dazu, dass die drei Parteien – Kläger, Beklagte und Gericht – ständig Schriftsätze aus Pakistan anfordern und übersetzen lassen müssen. "Wir erhalten aber Unterstützung von sehr renommierten Rechtsanwälten in Pakistan", erklärt Klinger.

Seit Einreichung der Klage hat KiK diverse Maßnahmen ergriffen, um sein Image zu verbessern. KiK hat sich dem "Textilbündnis" angeschlossen, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung initiiert wurde. In diesem Bündnis vereinbarten deutsche Unternehmen bestimmte Standards bezüglich Sicherheit und Menschenrechte.

"KiK ist recht spät beigetreten. Die Standards wurden kürzlich abgesenkt." KiK schloss sich auch dem internationalen Brandschutzabkommen für Bangladesch an, das nach dem Einsturz der Rana-Plaza-Fabrik 2013 geschlossen wurde, bei dem mehr als 1.100 Menschen starben. KiK bestreitet jedoch, dass dort für das Unternehmen produziert wurde, obwohl Fotos KiK-Einnäher in den Schutthaufen zeigen. "Dass KiK diesem Abkommen beitritt, ist natürlich lobenswert", sagt Klinger, "aber ich bezweifle, ob das Unternehmen aufrichtig ist und sich daran hält."

KiK verkauft Kleidung, die nicht trendempfindlich ist. Basisausstattung, viel Unterwäsche. Daher kann sich das Unternehmen erlauben, die Textilien per Schiff aus fernen Ländern nach Deutschland zu transportieren. "Die trendempfindlichen Marken, die ihre Bekleidung einfliegen lassen und daher auch teurer verkaufen müssen, sind deswegen nicht automatisch Unternehmen, die höhere Menschenrechtsstandards bei der Produktion einhalten", betont Klinger.

KiK-Geschäftsführer Heinz Speet ist als medienscheuer Manager bekannt. Die Tageszeitung "Die Welt" war im März 2015 daher stolz, ein Interview mit ihm veröffentlichen zu können. Speet präsentierte darin die guten Vorsätze von KiK als eine Wende der Unternehmensstrategie, womit er nicht nur den Brand in Pakistan meinte, sondern auch KiKs Umgang mit Streiks in deutschen Niederlassungen, wo er lange Zeit nicht den in der Branche geltenden Mindestlohn zahlte.

KiK genießt in Deutschland keinen guten Ruf. Mehr als einmal gab es Konflikte mit der Belegschaft. Dabei ging es um Löhne, aber auch um die überzogenen Kontrollen bezüglich möglicher Unterschlagungen. Zusammen mit den Berichten über schlechte Arbeitsbedingungen in den Fabriken Asiens hat dies KiK viel Kritik eingebracht. Dem Umsatz hat dies keinen Abbruch getan: Er beträgt mittlerweile fast zwei Milliarden Euro. Auch der Online-Umsatz steigt.

Bei KiK gibt es T-Shirts für 2,99 Euro – da fragt man sich schon, wie das möglich ist. Dafür hat das Unternehmen in Ländern wie Pakistan und Bangladesch intensiv über den niedrigs­ten Preis verhandelt. Wie das geht, zeigte eine niederländische TV-Dokumentation, in der Hersteller zu Wort kamen, die unverfroren versprachen, sie könnten die Vereinbarungen des Bangladesch-Abkommens einfach umgehen und so den Preis niedrig halten.

Genau das sei das Problem bei freiwilligen Vereinbarungen zu Sicherheitsmaßnahmen zwischen Herstellern und Abnehmern von Textilien, sagt Klinger. Er fordert statt freiwilliger Vereinbarungen Gesetze, die klar besagen, was erlaubt ist und was nicht. "Das ist die Erfahrung, die wir in den vielen Jahren gesammelt haben, in denen wir uns als Kanzlei mit Umweltrecht beschäftigen."

Umweltrecht sei noch immer der Schwerpunkt seiner Kanzlei, sagt Klinger. "Das ist deutlich weiter entwickelt als die Menschenrechte. Man fragt sich gelegentlich, warum der Feldhamster rechtlich besser geschützt ist als der Mensch. Dies betrifft vor allem internationale Menschenrechte: Die Folgen der Globalisierung für die Menschenrechte sind juristisch noch kaum abgedeckt."

Als Fortschritt bezeichnet Klinger die "Ruggie-Leitprinzipien", benannt nach dem UNO-Sonderbeauftragten John Ruggie. Sie umfassen Menschenrechtsprinzipien für international tätige Unternehmen. "Die Frage ist jedoch, ob und wie sie in der Gesetzgebung umgesetzt werden. Bleiben Sie freiwillig? Oder erlassen die Länder tatsächlich entsprechende Gesetze? In Frankreich geschieht dies bereits, in Deutschland beginnt die Diskussion erst."

Das Schönste wäre natürlich, wenn es Regelungen auf europäischer Ebene gäbe, stellt Klinger fest: "Die Europäische Kommission müsste sich der Sache annehmen, aber dort sehe ich keine Bewegung. Jean-Claude Juncker hat 'Unternehmen und Menschenrechte' zwar auf die Agenda der sieben führenden Industrienationen (G7) gesetzt, aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Europäische Kommission an einem Vorschlag arbeitet. Die Länder müssen alles selbst tun."

Klinger mischt sich ausdrücklich in die Diskussion in Deutschland ein – gemeinsam mit dem "European Center for Constitutional and Human Rights" (ECCHR). Die kleine, aber ­aktive Organisation hat Klinger bereits mehrere Male hinzu­gezogen, um Prozesse zu führen. "Ein Beispiel ist der Merowe-Staudamm im Sudan, der vom deutschen Unternehmen Lahmeyer gebaut wurde. Das Unternehmen ließ 2010 das gesamte Wasser in ein Tal fließen, als die Verhandlungen zur Umsiedlung der Bevölkerung noch in vollem Gange waren. Wir haben im ­Namen der Dorfbewohner geklagt."

Mit dem ECCHR betreut Klinger diverse Fälle, die deutsche Unternehmen betreffen, darunter die argentinische Mercedes-Benz-Tochter, die an schwerwiegenden Menschenrechtsverstößen während der Militärdiktatur beteiligt war. Die Möglichkeiten, dagegen in Deutschland zivilrechtlich vorzugehen, sind jedoch begrenzt, erläutert Klinger. "Ich habe auch Fälle in Amerika begleitet." Dort gebe es mehr Möglichkeiten. "In Amerika müssen zum Beispiel alle Beteiligten eines Prozesses ihre Unterlagen vorab zur Einsicht bereitstellen", erklärt Klinger.

In Deutschland hingegen müsse man als Kläger sämtliche Beweise sammeln, während der Gegner seine Akte geschlossen halten dürfe. Dieser könne darauf beharren, dass der Kläger Unrecht habe, selbst wenn er über Dokumente verfüge, die die Position des Klägers belegen.

"Das deutsche Zivilrecht stammt noch aus dem 19. Jahrhundert", seufzt Klinger. "Dies wird der derzeitigen Situation, mit all den internationalen Verflechtungen, nicht gerecht. Man müss­te wie in Amerika und Großbritannien im Namen einer Gruppe eine Sammelklage einreichen können. Beim KiK-Prozess beschränken wir uns auf vier Opfer, um die Kosten niedrig zu halten. Es geht aber um Hunderte Menschen, die nun Gefahr laufen, dass ihr Fall in der Zwischenzeit verjährt."

Der deutsche Gesetzgeber sei dringend gefordert, sagt Klinger, doch sei es schwierig, Druck auf den Gesetzgeber auszu­üben. Insbesondere, da die Zahl der deutschen Rechtsanwälte, die sich mit Menschenrechtsfragen beschäftigen, an einer Hand abzuzählen ist. Und das, obwohl es 100.000 Anwälte gibt. "Menschenrechtsfälle bringen eben in der Regel nichts ein. Es ist eine rein ehrenamtliche Arbeit. Aber ich sehe es als eine Pflicht an, die ich als Rechtsanwalt habe."

Der Autor war niederländischer Journalist und Philosoph. Antoine Verbij starb im Oktober 2015 in Berlin.

Präzedenzfall für die Textilindustrie Am 11. September 2012 starben bei einem Brand in der Textilfabrik Ali Enterprises in Karachi (Pakistan) mehr als 250 Menschen, 32 wurden verletzt. Hauptkunde der Fabrik war nach eigenen Angaben der deutsche Textildiscounter KiK. Vier Betroffene des Brandes haben am 13. März 2015 beim Landgericht Dortmund Klage auf Schadenersatz ­gegen KiK eingereicht. Muhammad Hanif, Muhammad Jabbir, Abdul Aziz Khan Yousuf Zai und Saeeda Khatoon gehören zur Selbstorganisation der Betroffenen, der "Baldia Factory Fire Affectees Association", und fordern je 30.000 Euro Schmerzensgeld. Das "European Center for Constitutional and Human Rights" (ECCHR) und medico international unterstützen die Klage, die Rechtsanwalt Remo Klinger aus Berlin eingereicht hat. Der Prozess wird in der internationalen Textilbranche mit großem Interesse verfolgt, da es sich um den ersten Fall handelt, in dem eine ausländische Textilfirma für die Zustände in einem asiatischen Zuliefer­betrieb haftbar gemacht werden soll.

Weitere Informationen unter www.ecchr.eu

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