Amnesty Journal El Salvador 03. Juni 2014

Anschlag auf die Erinnerung

Auf eine Organisation, die in El Salvador nach verschwundenen Kindern sucht, wurde ein Brandanschlag verübt. Der Hintergrund könnte politisch motiviert sein. Vielleicht gibt es aber auch ganz andere Beweggründe.

Von Michael Krämer

Private Sicherheitskräfte prägen das Stadtbild von El Salvadors Hauptstadt San Salvador. Ob am Bankschalter, im Supermarkt oder vor einer Apotheke – überall sind Bewaffnete postiert, die von den Eigentümern aus Angst vor einem Überfall bezahlt werden. Vor dem Büro der "Asociación Pro-Búsqueda de Niñas y Niños Desaparecidas" hingegen stehen Polizisten. Ihre Zahl ist in El Salvador viel geringer als die der privaten Sicherheitskräfte, und so werden sie nur bei großer Gefahr abgestellt.

Geld gibt es bei der "Vereinigung für die Suche nach verschwundenen Kindern" (Pro-Búsqueda) allerdings nicht zu holen. Ihr Reichtum besteht in Tausenden Zeugenaussagen und DNA-Proben, die auf die Schicksale von Kindern verweisen, die während des Bürgerkriegs von 1980 bis 1992 verschwunden sind. Die Täter waren zumeist Militärs, häufig entführten sie die Kinder bei großen Militäroperationen, nachdem sie deren Eltern ermordet hatten oder diese die Kinder auf der Flucht vor der Armee zurücklassen mussten.

Fast tausend Fälle verschwundener Kinder hat Pro-Búsqueda seit 1994 dokumentiert, annähernd 400 davon sind gelöst. "In 239 Fällen konnten wir eine Wiederbegegnung der Kinder, die heute längst Erwachsene sind, mit ihren Eltern oder anderen Familienangehörigen organisieren", erklärt Marina Ortíz. Sie war einst selbst ein verschwundenes Kind und arbeitet seit mehr als zehn Jahren bei Pro-Búsqueda. "Bei weiteren fast hundert Kindern haben wir herausgefunden, was mit ihnen geschehen ist und wo sie leben. Es gab aber noch keine Wiederbegegnung mit ihren Angehörigen. Viele von ihnen wurden ins Ausland verkauft und leben heute in den USA oder in einem europäischen Land. Und dann gibt es noch die Kinder, bei denen wir herausgefunden haben, dass sie tot sind. Bei einigen von ihnen konnten wir Exhumierungen organisieren und so die Trauer der Angehörigen ermöglichen", resümiert Ortíz.

Nachdem die Friedensverträge im Januar 1992 unterzeichnet wurden, begannen drei Mütter und ein Vater, nach ihren zu Beginn des Krieges entführten und seither verschwundenen Kindern zu suchen. Sie wurden dabei von dem Jesuitenpater Jon Cortina unterstützt. Nach einem ersten Erfolg wurde im August 1994 Pro-Búsqueda gegründet. Jon Cortina leitete die Organisation bis zu seinem Tod im Jahre 2005.

In den ersten 15 Jahren ihres Bestehens musste Pro-Búsqueda meist gegen den Widerstand der Regierungen arbeiten. Die 20 Jahre lang regierende rechte ARENA-Partei lehnte die Aufklärung des Verbleibs der verschwundenen Kinder vehement ab. Erst mit dem Wahlsieg der ehemaligen Guerillabewegung FMLN im Jahr 2009 begann der salvadorianische Staat, seine Verantwortung für die Opfer des Bürgerkriegs wahrzunehmen. Eine staatliche Kommission zur Aufklärung des Schicksals verschwundener Kinder konnte zwanzig Fälle klären. Die Archive des Militärs sind aber bis heute verschlossen. Pro-Búsqueda bekommt ebenso wenig Zugang wie die staatliche Kommission.

Nicht einmal auf Präsident Mauricio Funes, der El Salvador seit 2009 und noch bis zum 1. Juni dieses Jahres regiert, hören die Militärs. Sie haben einiges zu verbergen – und befürchten, dass sich Armeeangehörige eines Tages doch noch für ihre Verbrechen vor Gericht verantworten müssen: Im vergangenen Jahr hat die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs eine Klage verschiedener Menschenrechtsorganisationen gegen das Amnestiegesetz von 1993 angenommen. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission hat den salvadorianischen Staat schon mehrmals aufgefordert, das Amnestiegesetz aufzuheben.

Ebendies macht die Zeugenaussagen und DNA-Spuren im Archiv von Pro-Búsqueda so brisant. Sollte die Verfassungskammer das Amnestiegesetz kippen, könnten diese in Gerichtsverfahren gegen einzelne Militärs genutzt werden. Doch wie weit würden die früheren Militärs und andere rechte Kreise gehen, um eine Strafverfolgung der Menschenrechtsverletzungen während des zwölfjährigen Bürgerkriegs zu verhindern?

In den frühen Morgenstunden des 14. November 2013 verschafften sich drei bewaffnete Männer Zugang zum Büro der Organisation in der Colonia Buenos Aires in San Salvador. Sie fesselten den Nachtwächter, den Fahrer und den Vorstandsvorsitzenden, brachen Schränke auf, zerstörten eine halbe Stunde lang Unterlagen, legten schließlich Feuer und nahmen mehrere Computer mit. Zum Glück konnten sich die drei Gefesselten schnell befreien und das Feuer löschen. Den größten Schaden gab es in der juristischen Abteilung, der Abteilung für Lobbyarbeit und Organisation und in der Buchhaltung.

Wie viele andere vermutete auch der Menschenrechtsanwalt David Morales in einer Erklärung am gleichen Tag einen politischen Hintergrund. Ester Alvarenga, die langjährige Geschäftsführerin der Organisation, sprach von "Sabotage". Einiges spricht für die Vermutung, dass rechte Täter Beweismittel zerstören und Pro-Búsqueda angreifen wollten, weil die Organisation seit einiger Zeit verstärkt die Gerichte bemüht, um verschwundene Kinder aufzufinden – und dabei auch zu klären versucht, wer für ihr Verschwinden verantwortlich ist.

Die Angst der Rechten vor der Wahrheit wächst. So erfolgte auch die vorübergehende Schließung von Tutela Legal, dem renommierten Rechtshilfebüro des Erzbistums von San Salvador, das einst Erzbischof Oscar Arnulfo Romero gegründet hatte, offenbar auf Druck rechter Kreise. In den Archiven von Tutela Legal finden sich Tausende Zeugenaussagen, die ebenfalls vor Gericht verwendet werden können. Den Tätern von einst, die nicht davor zurückschreckten, Kinder verschwinden zu lassen und die für Massaker mit Hunderten Toten verantwortlich sind, ist ein Anschlag, wie der auf Pro-Búsqueda, jedenfalls zuzutrauen.

Doch es gibt noch eine zweite These, die auf interne Gründe für das Attentat zielt. Denn Pro-Búsqueda macht zwar eine ausgezeichnete Arbeit, wenn es um die Suche nach verschwundenen Kindern geht, doch intern befindet sich die Organisation in einer Krise. Ein langjähriger Buchhalter hat im Lauf mehrerer Jahre größere Summen veruntreut. Die internen Kontrollmechanismen waren schlecht, und bis heute ist nicht klar, ob der Buchhalter allein gehandelt hat und um wie viel Geld es eigentlich geht. Der Buchhalter wurde im vergangenen Jahr entlassen, bis heute hat Pro-Búsqueda aber keine Anzeige gegen ihn gestellt. Marina Ortíz kann sich durchaus vorstellen, dass der Buchhalter mit dem Attentat zu tun hat. Schließlich waren die Zerstörungen in der Finanzabteilung mit am größten und nun wird es noch schwerer sein, das Ausmaß der Veruntreuung festzustellen.

Es steht jedenfalls zu befürchten, dass auch der Brandanschlag straffrei bleibt, wie fast alle anderen Verbrechen in El Salvador. Bis Mitte April hat die ermittelnde Staatsanwältin Jaqueline Quintanilla keine Anklage erhoben. Bleibt zu hoffen, dass Pro-Búsqueda das 20. Jubiläum im August mit mehr Klarheit über die Gründe für den Anschlag begehen kann. Dass der Polizeischutz für das neue Büro bis dahin verschwunden sein wird, ist eher unwahrscheinlich. Denn Pro-Búsqueda hat gleich mehrere Gerichtsverfahren gegen die Armee und andere Verantwortliche angestrengt. Auch 22 Jahre nach Kriegsende ist die Wahrheit in El Salvador höchst gefährlich.

Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

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