Amnesty Journal 15. März 2011

Ein unsichtbares Heer

Sie putzen, pflegen und bauen für uns. Weil wir billige Dienstleistungen bevorzugen, leben sie in der Illegalität – ohne Schulen, ohne Ärzte, ohne Rechte.

Von Maike Wetzel

Wir sind überall. Wir bringen dir Essen, wir putzen für dich, wir machen dir Liebe, wir pflegen dich, wir bauen dein Haus. Wir sind überall, doch es gibt uns nicht. Wir sind ein blinder Fleck im Auge des Staats, im Auge seiner Bürger. Wir haben keine Papiere. Wir sind gekommen, weil wir glaubten, in diesem Land könnten wir unsere Familien ernähren und müssten keine Angst haben. Niemand hungert in diesem Land, niemand friert, niemand wird wegen seiner Ansichten, seines Geschlechts, seiner Religion oder anderer willkürlicher Gründe verfolgt oder gar getötet. Niemand muss in den Krieg. Es gibt Ärzte, Kindergärten, Schulen, Universitäten für jeden. Das glaubten wir.

Bleiben wollen nur wenige von uns. Wir haben unsere Familien zurückgelassen. Für sie wollen wir Geld verdienen, zu ihnen wollen wir zurück. Manche von uns sind aber so jung oder so verzweifelt, dass sie gar nichts haben, zu dem sie zurückkehren könnten. Für sie gibt es nur die Flucht nach vorn. Aber auch für viele andere ist dieses Land zu einer Falle geworden. Wir kamen, um Geld zu verdienen. Wir dachten, wir seien tüchtig, wir seien uns für nichts zu fein, doch wir wussten nicht, wie schwer es ist, hier Fuß zu fassen.

Es ist schwer, die Sprache zu lernen, wenn du dich verstecken musst. Es ist schwer, Arbeit zu finden. Es ist noch schwerer, sie zu behalten und fast unmöglich, einen angemessenen Lohn zu erhalten. Es ist schwer, eine Bleibe zu finden. Noch schwerer, sie zu bezahlen. Wenn wir Arbeit finden, bleibt den meisten von uns in den ersten beiden Jahren gar nichts. Wir zahlen nur unsere Reisekosten ab. Es dauert mindestens fünf Jahre, bis du Geld zurücklegen kannst, sagen die, die schon lange hier sind. Wenn die Polizei uns vorher schnappt, kehren wir mit Schulden in unsere Heimat zurück.

Manche von uns schaffen es, bis zu zehn Jahre hier zu bleiben. Doch die ganze Zeit ­sehen sie ihre Familie nicht. Sie vermissen sie, sie werden ihr fremd.
Diejenigen von uns, die ihre Familie mitgenommen haben, sind nicht unbedingt besser dran. Unsere Kinder dürfen meist nicht die Schule besuchen. Sie haben kein Recht auf Unterricht. Die Lehrer müssten sie den Behörden melden. Deshalb hocken unsere Kinder zu Hause vor dem Fernseher. Sie dürfen erst raus auf den Spielplatz, wenn die anderen Kinder aus der Schule kommen. Wir schuften für eine bessere Zukunft unserer Kinder, aber wir wissen nicht, wann diese stattfinden soll. Manchmal drückt jemand im Schulamt ein Auge zu und unsere Kinder dürfen in die Schule. Auf Auslandsreisen können sie ihre Klassen­kameraden trotzdem nicht begleiten. Wenn sie sich beim Sport oder auf dem Schulhof verletzen, schweigen sie und humpeln davon, um nicht ins Krankenhaus zu kommen. Dort flöge ihr Status auf. Sie lernen von klein auf, dass sie sich verstecken müssen. Sie können niemandem vertrauen.

Wir bringen unseren Kindern das Schweigen bei, sobald sie reden können. Auch wir gehen nicht zum Arzt, wenn wir schwanger sind oder krank. In manchen Städten gibt es für den Notfall Hilfsdienste. Wenn wir Glück haben, erfahren wir rechtzeitig davon und schaffen es, dorthin zu kommen. Manche von uns krepieren allein. Polizisten gehen wir aus dem Weg. Wir fahren niemals schwarz. Wir gehen nicht bei Rot über die Ampel. Wir fahren kein Rad. Denn Menschen mit dunkler Hautfarbe werden zu oft angehalten, um die Rahmennummer zu kontrollieren.

Am Telefon lügen wir unsere Familien an, wenn wir schon wieder unseren Job verloren haben. Wenn wir uns ständig wieder neu als Putzfrau vorstellen, uns Hausbesitzer die komplette Grundreinigung machen lassen und dann befinden, es sei nicht sauber genug und uns ohne Lohn wegschicken. Wir erzählen nicht, dass uns jemand bestohlen, vergewaltigt oder betrogen hat. Wir können uns nicht wehren. Wir können niemanden anzeigen, da uns selbst dann die Ausweisung droht.

Unsere Familien am Telefon sollen sich keine Sorgen machen, sie brauchen uns. Wir erzählen nicht, dass uns jetzt ein Finger fehlt, weil wir auf der Baustelle zu müde waren, um die Flex richtig zu halten. Wir sagen nicht, dass wir uns ein kleines Zimmer und sogar das Bett mit einem anderen Menschen teilen müssen, weil uns ohne Papiere niemand eine Wohnung gibt. Wir erzählen unseren Familien am Telefon nicht von unseren Tränen und auch sie schweigen über ihre.

Wir spülen ab in Gourmetrestaurants. Wir servieren Champagner, aber wir trinken nie davon. Wir schütteln die weichen Daunenbetten auf im Hotel, doch wir liegen nicht darin. Dass wir zu Hause Architekten, Ärztinnen oder Hotelmanager waren, interessiert hier niemanden. Wir holen die heißen Brötchen aus dem Ofen, wir heben die schweren Kisten vom Wagen. Wir können jetzt nicht aufgeben. Wir können nicht zurück. Wir sehnen uns nach Zuhause. Wir wollen dort einen Laden eröffnen, ein Restaurant. Wir wollen uns dort eine Existenz aufbauen. Doch das gesparte Geld reicht dafür noch nicht. Wir verlören das Gesicht. Wir arbeiten für den geringsten Lohn. Am Ende des Tages, am Ende der Woche, am Ende des Monats wird uns manchmal auch der verwehrt. Wir können niemand anzeigen. Täten wir es, wiesen uns die Behörden aus.

Wir glaubten, dieses Land bringe uns weiter. Wir glaubten, es sei die Lösung für unsere Probleme. Wir sparten für die Reise, wir sagten allen Lebewohl oder gingen leise, heimlich. Wir setzten uns in übervolle Schiffe, erstickten fast in Frachträumen von Lastwagen, von Containern, von Zügen. Manche von uns kamen als Urlauber, doch sobald sie ihre Reisegruppe verließen, begann der Spießrutenlauf.
Ich spreche mit einer Stimme, doch in Wirklichkeit sind wir isoliert. Wir trauen niemandem.

Jeder, der von unserem Status weiß, hat uns in der Hand. Auch unsere Landsleute nutzen uns aus. Wir hausen in Baracken, wir wohnen in verschimmelten, engen Wohnungen. Wir zahlen doppelt und fünffach für sie. ­Gegen Gebühren deponieren wir unser Geld bei Menschen aus demselben Land. Manchmal haben wir Pech: Sie kassieren unsere ganzen Ersparnisse. Wir zeigen sie nicht an. Gegen Gebühren leihen wir uns fremde Papiere, fremde Krankenkassenkarten, manchmal sogar Ehepartner aus. Diese Scheinehen können teuer sein. Bis zu 15.000 Euro lassen sich manche der legalen Ehepartner zahlen. Manche von uns werden aber auch ohne Geld geheiratet. Das böse Erwachen kommt dann oft schnell. Ihr Mann oder ihre Frau verlangt absoluten Gehorsam von ihnen. Schließlich können sie sich ein Scheitern der Ehe vor Ablauf der Frist nicht erlauben. Wieder flögen sie raus.

Wir sind nicht wenige, wir sind viele. Wer durch die Straßen bummelt, begegnet uns. Das Brötchen in deiner Hand wurde von uns geschmiert. Die Toilettenschüssel unter deinem Hintern von uns geschrubbt. Wir werden nicht verschwinden. Im Gegenteil: Unsere Zahl wird wachsen. So lange die Kluft zwischen Arm und Reich wachsen wird, so lange es Hungersnöte, Kriege, Katastrophen gibt. Ihr glaubt, ihr seid vor uns sicher, weil wir keine Papiere haben. Weil es uns offiziell nicht gibt. Weil wir unsere Köpfe ducken müssen. Weil ihr uns keine Medizin, keinen Unterricht, keinen Schutz gebt. Aber ihr irrt euch: Wir sind ein unsichtbares Heer. Betet dafür, dass ihr niemals zu uns gehört.

Maike Wetzel, 36, lebt als freie Schriftstellerin und Drehbuchautorin in Berlin. Für ihre Erzählungen ­wurde sie mehrfach ausgezeichnet, ­unter anderem mit dem Bayerischen Staatsförderpreis.

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