Amnesty Journal 25. November 2011

Die Jungs aus Mogadischu

Milizionär in Mogadischu, August 2011.

Milizionär in Mogadischu, August 2011.

In Somalia verhindert die islamistische al-Shabaab-Miliz, dass die internationale Nahrungsmittelhilfe die Dürreregionen erreicht. Der Aufstieg der Fundamentalisten ist auch eine Folge militärischer Interventionen.

Von Johannes Dieterich

Die Wucht der Explosion enthauptete Menschen und schleuderte abgetrennte Gliedmaßen durch die Luft. Als der somalische Selbstmordattentäter Baschar ­Abdullahi Nur am 4. Oktober seinen mit Sprengstoff und Benzin beladenen Lastwagen im Zentrum der somalischen Hauptstadt Mogadischu explodieren ließ, waren mehr als siebzig Menschen auf der Stelle tot: Über vierzig meist schwer verbrannte Somalier erlagen ihren Verletzungen später im Krankenhaus unter entsetzlichen Qualen.

Selbst Bewohner Mogadischus, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten viele Gewalttätigkeiten miterleben mussten, waren vom Ausmaß des Blutbads schockiert: "So etwas habe ich noch nie gesehen", sagte ein Krankenpfleger im Medina-Hospital, bevor er sein Gesicht in den Händen verbarg.

Immer wieder hat die islamistische al-Shabaab-Miliz in den vergangenen drei Jahren gnadenlos zugeschlagen: Mehr als 350 Menschen sind bei den zehn dramatischsten Selbstmordanschlägen der selbsternannten Gotteskrieger ums Leben gekommen. Der Miliz, der eine Verbindung zu al-Quaida nachgesagt wird, ist es trotz der Einnahme Mogadischus durch Truppen der Übergangsregierung gelungen, einen verheerenden Anschlag zu verüben. Vor zwei Jahren hatte sie sich die Abschlussfeier der ersten Abgänger einer medizinischen Hochschule als Ziel ausgesucht und brachte neben drei Ministern auch mehrere Medizinstudenten um. Jetzt traf der Anschlag Studenten, die wissen wollten, wie sie in Tests für ein Stipendium in der Türkei abgeschnitten hatten – verheißungsvolle Leistungsträger, auf die Somalia so dringend angewiesen ist. "Ungläubige halten unsere Leute mit weltlicher Erziehung beschäftigt, um sie von religiösen Studien abzulenken", begründete der Attentäter Nur seine Tat in einem vor dem Massaker aufgezeichneten Interview.

Die "Jungs" – was al-Shabaab auf Arabisch bedeutet – hätten sich mit diesem Anschlag ihr eigenes Grab geschaufelt, davon ist der Somaliabeauftragte der Vereinten Nationen, Matt Bryden, überzeugt: Auf diese Weise hätten die Extremisten auch noch den letzten Rest an Sympathie verspielt, den sie in der Bevölkerung genossen.

Tatsächlich folgte auf jeden Angriff al-Shabaabs eine entschiedene negative Reaktion: Mit einem Anschlag in Uganda während des Finales der Fußball-WM 2010, dem 76 Menschen zum Opfer fielen, zogen sie den Unmut des gesamten Kontinents und den Zorn der Ugander auf sich: Danach kämpften die 6.000 in Mogadischu stationierten Soldaten aus dem ostafrikanischen Staat nur noch verbissener. Noch vor fünf Jahren hoffte ein Teil der Bevölkerung, dass al-Shabaab den langersehnten Frieden und Stabilität in Mogadischu etablieren würde. Mit der Herrschaft der "Union Islamischer Gerichte (ICU)" im August 2006 schien in den Staat erstmals nach 16 Jahren wieder etwas Normalität einzukehren – die Straßen wurden gereinigt und Schulen geöffnet.

Außerhalb Somalias stand man der Machtübernahme der Gottesmänner skeptisch gegenüber: Vor allem die USA zeigten sich besorgt, dass sich unter den religiösen Führern auch einzelne terroristische Eiferer befanden. Die Regierung des überwiegend christlichen und prowestlichen Nachbarstaats Äthiopien wurde deshalb ermutigt, die Herrschaft der somalischen Islamisten mit einer Invasion zu beenden, was den Truppen aus ­Addis Abeba – unter erheblichen Opfern – zunächst auch gelang. Allerdings löste die äthiopische Besatzung selbst unter ­gemäßigten Somaliern eine Welle der Empörung aus – und führte gleichzeitig zu einer dramatischen Radikalisierung der islamistischen Gruppierungen, deren gemäßigte Vertreter fortan nichts mehr zu sagen hatten.

Infolge der äthiopischen Invasion zerfiel die ICU. Ihre Jugendorganisation, die al-Shabaab, blieb als eigenständige Organisation übrig und verstärkte den bewaffneten Kampf gegen die Übergangsregierung und die äthiopische Armee. Bald brachten sie große Teile des Landes ­unter ihre Kontrolle, von einem kleinen Teil Mogadischus und den autonomen Provinzen Somaliland und Puntland abgesehen. Die fundamentalistischen Muslime führten in ihren Territorien eine besonders scharfe Form der Scharia ein: Sie hackten Dieben die Hände ab, verboten jede Art von Musik im Radio und schlossen die wenigen noch vorhandenen Kinos .

Dass es der Miliz trotzdem nicht gelang, ihre Macht auf Dauer zu sichern, ist auf verschiedene Gründe zurückzuführen. Zum einen eignen sich die Somalier nur schlecht als fügsame Untertanen: Die Repression durch die Miliz stieß in der ansonsten eher moderaten somalischen Bevölkerung zunehmend auf Widerstand. Außerdem entsandte die besorgte Afrikanische Union (AU) eine Schutztruppe nach Somalia, die al-Shabaabs Herrschaft beenden sollte: Mogadischu, die einstige Perle Ostafrikas, glich Anfang dieses Jahres einem Trümmerfeld: Ein blutiger Häuserkampf mit Scharfschützen, Mörserfeuer, Sandsackfestungen und Schützengräben zerstörte auch noch die letzte Meile unversehrter Gebäude. Die von westlichen Militärberatern im Städtekampf ausgebildeten ugandischen und burundischen Soldaten erwiesen sich als überlegen: Haus um Haus und Block um Block drängten sie die zunehmend auch von ausländischen Mudschaheddin unterstützten Islamisten zurück.

Schließlich wurde Somalia in diesem Jahr von einer der schlimmsten Dürren seit 60 Jahren heimgesucht: Die Felder des Halbwüstenstaats vertrockneten, Hunderttausende Somalier flüchteten innerhalb des Landes oder in die Nachbarstaaten. Tausende verhungerten. Aus Angst, das Ausland könnte mit der Nahrungsmittelhilfe Einfluss in ihren Gebieten gewinnen, verwehrte al-Shabaab den meisten westlichen Hilfsorganisationen den Zugang zu ihren Territorien: Ihrem Ansehen bei der Bevölkerung hat das nicht genützt.

Auch unter den "Jungs" selbst führte der Bann der Hilfe zu erheblichen Spannungen: Mancher al-Shabaab-Kommandeur soll – wie Muktar Ali Robow aus der Lower Shabelle Region – den Ausschluss der Retter für einen schweren Fehler halten. Offenbar gibt es diesbezüglich unterschiedliche Auffassungen zwischen den einheimischen Milizionären und den ausländischen Mudschaheddin, denen das Schicksal der somalischen Bevölkerung weniger am Herzen liegt als der Aufbau eines mittelalterlichen Gottesstaats. Die Hoffnung, wegen des internen Streits werde die extremistische Allianz bald kollabieren, erwies sich bislang allerdings als trügerisch.

Die Gegner der al-Shabaab streiten sich vor diesem Hintergrund darüber, ob sie das Gespräch oder eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld suchen sollen. "Mit Terroristen redet man nicht", sagt Abdikadir Nur, der im Exil in Mogadischu lebende Gouverneur der von den Islamisten kontrollierten Lower-Schabelle-Provinz: "Man schaltet sie aus." Derselben Logik hängen auch die Kommandeure der AU-Mission an: Sie haben die all­gemeine Empörung über den Selbstmordanschlag im Herzen Mogadischus zum Anlass genommen, eine Offensive gegen die noch immer von den nördlichen Außenbezirken der Stadt aus operierenden Milizionäre zu starten.
Dass die AU-Mission die al-Shabaab demnächst aus ganz ­Somalia vertreiben kann, halten allerdings selbst die Kommandeure für ausgeschlossen. Auch wenn ihre Truppenstärke bald von derzeit 9.000 auf 12.000 Mann aufgestockt wird, ist das bei weitem nicht genug, um das Land, das doppelt so groß ist wie Deutschland, von den Extremisten zu befreien.

Auch auf die – unter anderem von Offizieren der Bundeswehr – in Uganda trainierten Truppen der somalischen Übergangsregierung ist kein Verlass: Sie nehmen im Ernstfall eher Befehle von ihren Clanältesten als von Offizieren entgegen oder – noch schlimmer – verkauften ihre Waffen gleich an den Feind. Dass al-Shabaab militärisch noch lange nicht geschlagen ist, hat der Anschlag in Mogadischu demonstriert. "Dies ist ein Guerillakrieg", sagt Roland Marchal, Somalia-Experte beim Pariser "Centre d’études et de recherches internationales": "Und Guerillakriege werden eben meistens nicht militärisch, sondern politisch gewonnen."

Doch die westliche Somalia-Politik habe nun mal keine klaren Ziele und Strategien, kritisiert der Experte: Ihr größtes Problem sei ihr Verbündeter – die somalische Übergangsregierung, die alle in sie gesetzten Erwartungen mit tödlicher Sicherheit enttäuscht. Vor einem Jahr sah es noch danach aus, als ob der gemäßigt islamistische Präsident Scharif Scheich Achmed ein neues Kapitel aufschlagen würde. Sein Regierungschef reduzierte das 48-köpfige Kabinett auf 18 Mitglieder, besetzte die meisten Ministerposten mit im Westen ausgebildeten Experten und sagte der alles überschattenden Korruption den Kampf an. Mogadischus neuer Bürgermeister organisierte Konzerte, ließ die ersten Straßenlaternen installieren und Parks anlegen: Das Leben in der zertrümmerten Perle Ostafrikas schien sich langsam wieder zu erholen.

Ein Jahr danach ist vom Aufbruch nur die Erinnerung geblieben. Präsident Scharif ist in einen Machtkampf mit dem Parlamentssprecher verfallen, dem bereits der Premierminister zum Opfer fiel: Trotz des Protests der Hauptstadtbewohner wurde der populäre Regierungschef ausgewechselt. Wo Parks geplant waren, haben inzwischen Zigtausende in die Stadt geflohener hungriger Landbewohner Notunterkünfte aus Ästen und Plastikplanen errichtet. Und auch der Kampf gegen die Korruption ist eingeschlafen: Im Volksmund wird der Präsident "Scharif, das Rasiermesser" genannt – wegen der dicken Scheiben, die sich der Staatschef von allen Transaktionen abzuschneiden pflegt.

Und mittlerweile drohen schon wieder neue Kämpfe. Im Oktober wurden vier europäische Frauen in Kenia entführt und möglicherweise nach Somalia verschleppt. Darunter befanden sich auch zwei spanische Mitarbeiterinnen der Organisation "Ärzte ohne Grenzen", die in dem kenianischen Flüchtlingslager Dadaab beschäftigt waren. Die Regierung in Nairobi machte die al-Shabaab für die Übergriffe verantwortlich und startete, angeblich mit Zustimmung der Übergangsregierung in Mogadischu, eine weitreichende Militäraktion. Die Miliz droht nun mit Anschlägen in dem Nachbarstaat, sollten die kenianischen Soldaten nicht abziehen. Wie solche Konflikte enden, darin hat man in Somalia viel Erfahrung.

Der Autor lebt in Südafrika und arbeitet als Afrikakorrespondent für ­mehrere deutsche und Schweizer Tageszeitungen.

Clan-System
In Somalia ist das Clan-System der Somali von großer Bedeutung für Gesellschaft und Politik. Jeder Somali gehört über seine väterliche Abstammungslinie einem Clan an. Die traditionell nomadisch lebenden Dir, Darod, Isaaq und Hawiye gelten als "echte Somali", während die sesshaft-bäuerlichen Rahanweyn als "unechte Somali" bezeichnet werden. Jede dieser Clan-Familien zerfällt in eine Vielzahl von Untergruppen, die Hunderte bis Tausende von Personen umfassen. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Somalia betrug 2010 bei Männern 49 und bei Frauen 52 Jahre. Die Müttersterblichkeit ist die dritthöchste der Welt, schätzungsweise besuchten nur sieben Prozent der Mädchen eine Schule.

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